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CLARA KLUG GIBT IHR KARRIEREENDE BEKANNT

Die dreifache Para Biathlon-Weltmeisterin und zweifache Bronzemedaillen-Gewinnerin bei Paralympics spricht offen über ihre Krankheit und welche Rolle der selbst verstärkte Leistungsdruck dabei spielte. Das Ziel der 28-Jährigen: für mehr psychologische Sensibilität im Para Sport werben.

photo by Pam Doyle/www.pamdoylephoto.com

STUTTGART. „Erfolg ist einmal mehr aufzustehen, als man hingefallen ist“ – mit diesen Worten zitierte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann Ende 2019 das Lebensmotto von Clara Klug. Hingefallen – genauer: in Abfahrten gestürzt – ist die Athletin der Spitzensportfördergruppe der Bayerischen Bereitschaftspolizei seitdem mehrfach drastisch: beim Weltcup Mitte Dezember 2019 in Lillehammer, beim ersten Weltcup nach der Corona-Pause im März 2021 in Planica, bei der Weltcup-Rückkehr im Dezember 2021 in Canmore und eineinhalb Monate später beim erneuten Weltcup-Comeback in Östersund. Die Folgen: Kein WM-Start, kein Paralympics-Start und das Gefühl, mindestens einmal zu häufig hingefallen zu sein. „Mir fehlt die Kraft zum Aufstehen – und das ist eine direkte Folge meiner Depression“, sagt die Münchnerin.

Um zu verstehen, was es bedeutet, in so kurzer Zeit so oft hinzufallen, muss man versuchen, sich in ihre Lage zu versetzen. Clara Klug hat eine angeborene Leber’sche Amaurose. Als Kind konnte sie Farben und Gesichtsmerkmale erkennen, mit den Jahren verdunkelte sich alles, heute bleibt ihr weniger als ein Prozent Sehleistung. Die schleichende Erblindung ist seit jeher mit vielen Belastungen verbunden: Zukunftsängsten, zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, Anstrengungen bei der Orientierung. Im Alltag lässt sie sich von ihrem Hund leiten oder tastet sich mit dem Blindenstock voran. Steht sie auf Skiern, hat sie auch Stöcke, doch die schiebt sie durch und streckt sie nach hinten, um mit viel Energie in die Abfahrt zu kommen.

Das Gefühl vergleicht sie mit einem Fall im Traum, „alles ist sehr ungewiss“. Je besser sie einen Abhang kenne, desto leichter werde es. „Das Problem ist, dass der Schnee immer anders ist, mal schneller, mal langsamer. Irgendwann kommt die Kompression, aber du weißt nicht wann.“ Die Abfahrt in Östersund, in der sie sich im Januar eine Fraktur am Schultergelenk zuzog, kannte sie gut. „Da bin ich oft runtergerauscht und es hat irre Spaß gemacht.“ Doch die Lockerheit in den Muskeln, die es in solchen Momenten braucht, war zuletzt einer Anspannung gewichen. Clara Klug hatte keine Kontrolle mehr, kein Vertrauen in sich.

Mit den Erfolgen kam die Belastung
Im Gespräch hält Clara Klug beim Blick zurück kurz inne. „Jetzt, wo ich das erzähle, finde ich mich ganz schön mutig. Dabei habe ich jahrelang gedacht, ich mache es nicht gut genug“, sagt sie und lacht. Es zeigt: sie kann reflektiert zurückblicken, sie hat mit ihrer Karriere abgeschlossen. An der Seite ihres Trainers und Guides Martin Härtl stieg sie 2012 ins Weltcup-Geschehen ein. Von 2017 an nahm die Zusammenarbeit so richtig Fahrt auf. Bei der Heim-WM in Finsterau gab es für die Athletin vom PSV München zweimal Silber
und einmal Bronze im Biathlon, dazu den zweiten Platz im Gesamtweltcup. Es folgten: Doppel-Bronze bei den Paralympics 2018 in PyeongChang und Dreifach-Gold bei der WM 2019 im kanadischen Prince George, zudem einmal Silber und einmal Bronze im Langlauf. Am Ende der Saison 2018/2019 stand der Gewinn des Biathlon-Gesamtweltcups. Tolle Erfolge – doch Clara Klug verband mit ihnen mehr Last als Lust. „Ich kann mich an keinen Wettkampf erinnern, mit dem ich richtig zufrieden war. Immer dachte ich: Eigentlich habe ich nur Glück gehabt. Und muss jetzt umso mehr beweisen, dass ich das alles verdient habe.“

Der steigende eigene Erwartungsdruck katapultierte sie in einen fatalen Kreislauf. Statt sie zu entfesseln, lähmten sie die Erfolge. Schon früher hatte sie sich wegen psychischer Probleme, die sie in erster Linie auf Alltagsbelastungen durch ihre Erblindung zurückführt, in Behandlung begeben und sich so auch mit ihrer Essstörung auseinandergesetzt. Nun brach einiges wieder auf sie hinein – mit zusätzlichen gesundheitlichen Folgen: die angeschlagene Psyche schwächte ihr Immunsystem. Klug, die schon immer anfällig für grippale Infekte war, wurde mehrfach krank und fing zu hastig wieder an zu trainieren. Hinzu kam Corona, die WM 2020 in Östersund wurde 24 Stunden vor dem ersten Rennen abgesagt. Daheim warteten Abstandsgebote und Maskenpflicht, mit denen sie sich enorm schwertat. „Sehende Menschen können das vielleicht nicht nachvollziehen, aber die Welt hört sich völlig anders an, wenn man eine Maske aufhat.“

Die Pandemie wirkte wie ein Brandbeschleuniger: Sie erlitt Panikattacken, fühlte sich antriebslos, quälte sich dennoch ins Training. Die Depression schlug voll zu. „Dabei dachte ich die ganze Zeit: Es darf mir nicht schlecht gehen. Anderen geht es viel schlechter als mir.“ Klug setzte sich selbst noch mehr unter Druck. Je näher die Paralympics in Peking rückten, desto schlimmer wurde es. Als sie das große Ziel verpasste, schottete sie sich ab, igelte sich ein – und zog dann die Notbremse. Trotz allem: Viele freudige Erinnerungen Clara Klug spricht sehr offen über ihre Erfahrungen. Sie weiß inzwischen, wie irrational ihre Gedanken waren. Dass diese Irrationalität Teil einer Krankheit ist, die im Bewusstsein vieler Menschen noch immer eher mit persönlichen Schwächen verbunden ist als mit einer Erkrankung. Auch sie selbst glaubte, dass sie keine Schwächen zeigen dürfe, dass das ein Mangel sei, den sie in den Griff zu kriegen habe, um wieder zu funktionieren, um wieder zu triumphieren – eine verhängnisvolle Denkweise. Viele Menschen seien mit ihrer Lage in den vergangenen Jahren überfordert gewesen. Traten Warnsignale auf, hofften alle, dass es nicht so schlimm werde. Sie selbst baute eine Fassade auf, um zu verheimlichen, wie schlimm es schon ist. Mit Erfolg: Es habe durchaus Hilfsangebote gegeben, heißt es aus dem Teamumfeld.

Doch Klug habe sich zu sehr zurückgezogen. Sie selbst empfand die Angebote als nicht greifbar und zielgerichtet genug. „Wenn du eine Depression hast, ist die Hemmschwelle, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sehr hoch.“ Sie wirbt dafür, auf psychische Herausforderungen im Para Sport ein stärkeres Augenmerk als bisher zu legen. Es brauche mehr behinderungsspezifische Sensibilität. „Wir leben 24/7 mit unseren Einschränkungen. In der Sportwelt wird das oft übersehen. Unsere psychische Belastung ist noch mal höher als die im olympischen Leistungssport.“ Den Kontakt zum Team will sie auch deshalb halten – um bei Bedarf als Mentorin für den Nachwuchs ihre Erfahrungen weiterzugeben. „Für die Trainer ist es superschwierig, mit diesen Dingen umzugehen. Ohne einen gewissen Druck und Ansporn funktioniert der Leistungssport nun mal nicht. Warum solltest du noch trainieren, wenn du mit dir zufrieden bist?“ Sie war nie zufrieden – und litt darunter. Trotzdem blickt sie nicht schaudernd zurück. „Ich möchte zwar schon einiges missen, nicht aber die Jahre an sich.“ Viel Schönes fällt ihr ein. Die Atmosphäre im Paralympischen Dorf, der respektvolle Austausch über alle Sprachbarrieren hinweg mit ihrer ukrainischen Dauerrivalin Oksana Shyshkova, die „tratschigen Nächte“ mit Zimmerkollegin Anja Wicker, die wahnsinnige Unterstützung der Sportfördergruppe der bayerischen Polizei. „Oder wenn ich im Training eine Grenze überwunden habe und staunte, wozu ich fähig bin.“

Clara Klug hat sich wegen ihrer Depressionen in neuerliche Behandlung begeben. Die Computerlinguistin ist in ihrem Job ins bayerische Landeskriminalamt gewechselt – „in ein tolles Team mit einem tollen Chef“. Sie hat dem Leistungssport den Rücken gekehrt, dem Sport an sich nicht. „Ich will neue Dinge ausprobieren“, sagt sie. Auf dem Plan steht, einen Tauchschein zu machen. Ihr Motto „Erfolg ist einmal mehr aufzustehen, als man hingefallen ist“ gilt weiterhin, nur anders als bisher.

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