FRECHEN/ROSTOCK. Michael Feistle verwandelte die Rostocker StadtHalle in ein Tollhaus: Mit einem verwandelten Penalty sorgte der 26-jährige Dürener in der Verlängerung für die Entscheidung und den Einzug der deutschen Goalballer ins Endspiel. Was für ein Krimi, was für ein Wechselbad der Gefühle: Im Halbfinale der Goalball-EM in Rostock gewinnt Deutschland knapp mit 4:3 gegen den aktuellen Paralympics-Sieger und Europameister Litauen – und kann das Märchen nun im Finale am Sonntagnachmittag gegen die Ukraine mit dem Titelgewinn vollenden. Die deutschen Damen spielen bereits morgens um Bronze gegen Großbritannien.
Herren: Deutschland – Litauen 4:3 (2:0). „Er ist der beste Center der Welt – und hat in den vergangenen beiden Spielen gezeigt, warum das so ist“, sagt Deutschlands Co-Trainer Stefan Weil. Die Rede ist von Michael Feistle, der trotz zugezogener Oberschenkelverletzung im Viertel- und auch im Halbfinale auf die Zähne gebissen und entscheidenden Anteil an den beiden dramatischen Siegen hatte.
Es war die erste Aktion der Verlängerung in einem verrückten und an Spannung kaum zu überbietendem Spiel: Litauen hatte einen Protokollfehler begangen, da nicht alle litauischen Spieler wie vorgeschrieben 90 Sekunden vor Wiederbeginn zum Equipment-Check an der Latte des eigenen Tores standen. Die Konsequenz: Penalty für Deutschland. Feistle schnappte sich den Ball, blieb cool und versenkte den Ball im Netz – die Entscheidung. Ende, Aus, Deutschland zieht ins Finale ein. Die Rostocker StadtHalle explodiert vor Jubel. „Die Reaktion des Publikums war unfassbar geil. Da wusste ich, dass der Ball reingeht. Dann war es totales Gefühlschaos, alle lagen auf mir“, berichtete Michael Feistle. Der 26-Jährige von der SSG Blista Marburg ist Vollblut-Goalballer und hat sich nicht erst bei dieser EM das Prädikat Weltklasse verdient – doch er hat es noch einmal dick unterstrichen. Im Halbfinale erzielte er drei der vier deutschen Tore, auch Oliver Hörauf traf einmal.
„Micha ist der Kopf der Mannschaft“, hatte Deutschlands Cheftrainer Johannes Günther bereits nach dem Viertelfinale gesagt, als sich Feistle zur Pause trotz Verletzung nahezu selbst einwechselte. „Körperlich geht’s mir bescheiden und ich habe Schmerzen, aber das wird im Endspiel noch einmal ignoriert“, sagte Feistle, der am Finaltag seinen 27. Geburtstag feiert. Dann wartet um 15.30 Uhr mit der Ukraine kein unbekannter Gegner, der sich bei dieser EM bisher in sehr starker Form präsentiert und genau wie die deutsche Mannschaft noch ungeschlagen ist. „Sie sind richtig gut drauf. Das wird ein ausgeglichenes und bestimmt wieder enges Spiel“, mutmaßt Feistle – so „droht“ der nächste Krimi.
Schon das Halbfinale gegen Litauen war eine Achterbahn der Emotionen und unfassbar spannend. „Wahnsinn, was für eine Dramaturgie. Litauen hat so eine starke Mannschaft, doch unsere Jungs haben eine unglaubliche Nervenstärke bewiesen“, sagte Cheftrainer Johannes Günther. Deutschland ging durch Feistle und Hörauf mit 2:0 in Führung, doch Litauen gelang der Ausgleich. Während des Spiels vergab Deutschland drei Penalties, scheiterte dreimal am Pfosten – und in der Schlussphase nahm das Duell dann noch mehr an Fahrt auf: Deutschland bekam zehn Sekunden vor dem Ende erneut einen Penalty, da Litauen den Angriff erst nach Ablauf der zeitlichen Frist abschloss. Feistle traf, die StadtHalle jubelte über den vermeintlichen Siegtreffer, doch Litauen konterte knapp drei Sekunden vor der Schlusssirene und glich aus. Dann folgte die Verlängerung – der Rest ist bekannt. „Litauen hat noch mehr Nerven gezeigt als wir. Jetzt spielen wir im Finale und wollen unbedingt gewinnen“, betonte Matchwinner Feistle.
Damen: Deutschland – Türkei 0:7 (0:3). „Mädels, für mich habt ihr eh schon gewonnen“, rief Cheftrainer Thomas Prokein seinen Spielerinnen während des Halbfinals gegen die Türkei zu. Zwar gab es gegen den Vize-Weltmeister und Titelfavoriten am Ende eine deutliche Niederlage, doch enttäuscht brauchte auf deutscher Seite niemand zu sein. Schon der Einzug ins Halbfinale war eine große Überraschung. Das hatte dem Team wohl vor EM-Beginn nach durchwachsener Vorbereitung und viel Verletzungspech kaum jemand zugetraut. „Das Halbfinale ist mehr, als wir uns selbst erhofft hatten“, stellte auch Prokein klar, für den es nach fast 20-jähriger Tätigkeit als Trainer der Goalball-Damen das letzte Turnier ist. „Wir sind angetreten, um nicht abzusteigen. Daher haben wir unser Soll mehr als erfüllt. Wir haben gezeigt, dass wir guten Goalball spielen können.“
Gegen die Türkei waren die deutschen Damen allerdings chancenlos, vor allem gegen die Vielzahl an gefährlichen Würfen der Top-Torschützin Sevda Altunoluk. Zwar zeigte das deutsche Trio einige gute Paraden und verteidigte mit allen Kräften das eigene Tor, doch die Weltklasse-Spielerin fand bis zur Pause dreimal die Lücke in der Abwehr. Offensiv fehlte es dem Team von Thomas Prokein an Durchschlagskraft gegen die stabile türkische Defensive, die kein Tor zuließ. Altunoluk hatte auch nach dem Seitenwechsel noch nicht genug und entschied das Spiel mit sieben Treffern nahezu im Alleingang. Deutschland verpasste bei einem Penalty den Ehrentreffer. Die Zuschauer in der Halle spendeten den deutschen Damen dennoch lautstarken Beifall für ein hervorragendes Turnier. Und auch Cheftrainer Prokein war trotz Niederlage happy: „Ein großes Kompliment an die Mädels, sie haben sehr viel Herz gezeigt.“
Im Spiel um Platz drei trifft Deutschland nun auf Großbritannien. In der Vorrunde entschied das deutsche Team die Partie noch mit 4:2 für sich und ärgerte die favorisierten Britinnen, die allerdings im Turnierverlauf immer stärker wurden und im Viertelfinale sogar Weltmeister Russland ausschalteten. Dennoch wollen die deutschen Damen die Sensation zum Abschluss. Spielerin Pia Knaute trocken: „Wir wollen Bronze holen, was denn sonst!?“Die deutschen Herren spielen bei der Heim-EM um 15.30 Uhr in der StadtHalle gegen die Ukraine um Gold, das Spiel um Platz drei bestreiten die Türkei und Litauen. Eine Frühschicht um Bronze erwartet die deutschen Damen um 9.30 Uhr gegen Großbritannien, ehe im Finale um 11.30 Uhr die Türkei und Israel aufeinandertreffen.
Bei der Goalball-EM kämpfen jeweils zehn Frauen- und Männerteams aus 15 Nationen um die begehrten Titel. Schirmherr ist Bundesinnenminister Horst Seehofer. Bereits seit 1976 gehört die traditionsreiche Sportart für Menschen mit Sehbehinderung zum Programm der Paralympics. Zwei Dreier-Teams spielen mit einem 1,25 Kilogramm schweren Klingelball auf neun Meter breite und 1,30 Meter hohe Tore, alle Spieler tragen dabei Dunkelbrillen.
Informationen zur EM gibt es unter www.em-rostock2019.de, alle Spiele können unter www.sportdeutschland.tv live geschaut werden.
Die deutschen Teams für die Heim-EM:
Damen: Stefanie Behrens (34 / Jena / SSG Blista Marburg), Annkathrin Denker (27 / Lübeck / SSG Blista Marburg), Charlotte Hartz (24 / Hamburg / SSG Blista Marburg), Pia Knaute (23 / Magdeburg / SSG Blista Marburg).
Herren: Michael Feistle (26 / Düren / SSG Blista Marburg), Stefan Hawranke (34 / Zittau / SSV Königs Wusterhausen), Oliver Hörauf (22 / Bautzen / Chemnitzer BC), Felix Rogge (30 / Neubrandenburg / Chemnitzer BC), Thomas Steiger (23 / Ellwangen / BVSV Nürnberg), Reno Tiede (29 / Rostock / RGC Hansa).
JUBEL ÜBER DEN FINALEINZUG – Photo: Binh Truong / DBS