FRANKFURT. Knapp eine Woche nach den verpassten Olympia-Qualifikationen der Frauen und Männer spricht Christian Dünnes, Volleyball-Sportdirektor des Deutschen Volleyball-Verbandes (DVV), über die Auswirkungen für den DVV, die Entwicklungen der Nationalteams, den Abschied von Superstar Georg Grozer und wirft einen Ausblick in die Zukunft.
Herr Dünnes, zum zweiten Mal in Folge haben beide Hallen-Teams die Qualifikation für die Olympischen Spiele nicht geschafft. Welche Argumente hat der DVV auf der eigenen Seite, wenn es trotz der verpassten Spiele in die Gespräche mit dem DOSB und das Thema PotAS, in das auch die Ergebnisse bei Olympia einfließen, geht?
CD:„Die Auswirkungen in der Sportförderung für den DVV sind im Moment nicht konkret zu beziffern. Natürlich ist die Spitzensportreform darauf ausgelegt, die Sportarten bzw. die Disziplinen mit den größten Erfolgsaussichten besser auszustatten und diejenigen mit geringerem Potenzial weniger zu fördern. Allerdings tut sich sicher jeder Sportexperte schwer, nach diesen beiden herausragenden Leistungen auf Turnieren, die auf Weltklasse-Niveau besetzt waren, den beiden deutschen Teams sportliches Potenzial abzusprechen. Wir sind als jeweils fünftbestes europäisches Team leider nicht qualifiziert, haben aber zum Beispiel die Niederlande (Anm. d. Red.: Sechster der Weltrangliste der Frauen) geschlagen und Europameister Serbien bei den Männern hinter uns gelassen. Es ist allgemein im Volleyball, wie in fast allen Spielsportarten, anerkannt, dass die Olympia-Qualifikation in Europa extrem schwer ist. Ist man als Europäer qualifiziert, ist immer auch eine Medaille in Reichweite.“
Was bedeutet das aber für die Sportart Volleyball in Deutschland?
CD:„Zuerst einmal muss man sagen, dass die Leistungen Werbung für den Volleyball waren. Die verpassten Qualifikationen tun aber natürlich weh. Die Präsenz bei den Olympischen Spielen sowie die damit einhergehende Berichterstattung in den Medien wären ein wichtiges Mittel gewesen, um unseren Volleyball-Teams in der Öffentlichkeit einen Schub zu geben. Gerade am Finaltag in Apeldoorn haben wir, als unser Team gegen circa 4.000 türkische Fans antreten musste, gesehen, dass wir als Sport- und Volleyball-Nation Ländern wie der Türkei und Polen mehr in diesem Bereich als auf dem Spielfeld unterlegen sind.“
Foto CEV: Im Finale mussten sich die Schmetterlinge der Türkei geschlagen geben.
Die Turniere gewonnen haben am Ende sicherlich nicht die Mannschaften, die über alle Tage die besten Leistungen gezeigt haben. Trotzdem waren Frankreich und die Türkei im Finale voll da. Was hat den deutschen Teams noch gefehlt, um so ein hochkarätig besetztes Turnier zu gewinnen?
CD:„Wir haben sicher das deutlich bessere Turnier als die Türkei bei den Frauen gespielt. Auch mit Frankreich bei den Männern waren wir bis einschließlich dem Halbfinale ebenbürtig. Wir haben mit beiden Teams bis zum Finale auch keine mentalen Schwächen gezeigt, im Gegenteil, wir haben viele enge Sätze mit einer beindruckenden Nervenstärke für uns entschieden. Trotzdem ist es richtig, dass sowohl die Türkei als auch Frankreich im Finale besser gespielt haben, präziser und vor allem konkreter in ihren Handlungen waren. Im Gedächtnis bleibt dort vor allem das Ass von Earvin Ngapeth beim Stand von 2:0 und 24:23 im dritten Satz bei 6.000 pfeifenden Zuschauern. In einem solchen Finale, wenn es um den letzten Schritt zur Erfüllung des großen Olympia-Traums geht, aber vor allem beim beschriebenen Aufschlag von Ngapeth, brauch man eine unmenschliche Nervenstärke.“
Kann man so etwas lernen?
CD:„Eine der wenigen Möglichkeiten, diese Nervenstärke zu erlangen ist, sich über Jahre eine Wettkampfhärte anzueignen, die diesen Moment als „normal“ und „gewohnt“ erscheinen lässt. Ngapeth hat solche Asse schon in dutzenden ähnlichen Situationen gegen Gegner auf gleichem Niveau und vor noch deutlich mehr Zuschauern geschlagen. Wir werden unsere Athleten nur dann in die Möglichkeit versetzt bekommen, auch noch den letzten Schritt auf dem Weg zu einer Olympiateilnahme oder einer Medaille bei Welt- oder Europameisterschaften zu machen, wenn wir sie über ihre gesamte Karriere schrittweise darauf vorbereiten und es für sie auf den unterschiedlichen Niveaus zur Normalität und Gewohnheit wird, wenn man solche Final spielt. Deshalb muss ich als Sportdirektor, und das ist eine Lehre aus den vergangenen drei Jahren, dichter an unseren Topathleten bzw. Top-Nachwuchstalenten und deren Karriereverläufen dran sein und sie begleiten.“
Woran müsste speziell im spielerischen Bereich gearbeitet werden?
CD:„Volleyballerisch haben wir gesehen, dass wir uns auf Augenhöhe mit den Topnationen bewegen. Trotzdem können und müssen wir uns in Einzelbereichen weiter verbessern. Hier fallen bei den Männern die Aufschläge und bei den Frauen die gestiegenen Anforderungen im athletischen Bereich in der Weltspitze auf. Beide Teams haben sicherlich im Vergleich zur absoluten Weltspitze in den Bereichen Abwehr und Zuspiel aus der Abwehr durch Nicht-Zuspieler Verbesserungsmöglichkeiten, die bereits in unserer Jugend gelernt und gelehrt werden müssen.“
Beide Nationalteams gehen augenscheinlich mit ganz anderen Voraussetzungen in den nächsten Olympia-Zyklus. Während bei den Frauen der Umbruch sicherlich kleiner ausfällt, scheint sich bei den Männern eine ganze Generation zu verabschieden. Wie kann dies gemeistert werden? Gibt es Spieler aus den Nachwuchskadern, den Sie 2020 schon den Sprung ins Nationalteam zutrauen?
CD:„Beide Mannschaften sind zwar von ihrer Altersstruktur unterschiedlich, aber ich bin überzeugt, dass wir bei beiden Teams ein sehr gutes Grundgerüst haben, welches um einzelne Puzzleteile ergänzt werden muss. Bei den Frauen ist die Hälfte der Mannschaft aus dem Jahrgang 1994/1995, die Voraussetzungen stimmen also, um in den nächsten Jahren internationales Top-Niveau zu erreichen. Ergänzt werden sie durch starke und aufstrebende Spielerinnen der jüngeren Jahrgänge. Hier werden sicher die Toptalente der Jahrgänge 2000-2003 schnell den Anschluss an die Frauen-Nationalmannschaft schaffen. Die Teilnahme an der Universiade im vergangenen Jahr hat dabei geholfen und soll 2021 wiederholt werden.“
Foto Conny Kurth: Georg Grozer hat in Berlin zum letzten Mal im Nationaltrikot gespielt.
Und bei den Männern?
CD: „Bei den Männern sind mehr Spieler 29 und älter. Ihnen traue ich aber, bis auf Marcus Böhme und Georg Grozer, einen kompletten weiteren Olympiazyklus durchaus zu. Außerdem ist ein Großteil des Kaders Jahrgang 1994 und jünger und kommt somit erst noch ins beste Volleyballalter. Auch hier werden in den nächsten Jahren die Spieler der Jahrgänge 1999-2002 ihre Chance bekommen und bei Ihnen bin ich mir sicher, dass sie von einigen genutzt werden wird. Dabei sehe ich den Jahrgang 1999/2000 noch vor dem „Europameisterjahrgang“ 2001/2002.“
Superstar Georg Grozer hatte schon vor dem Turnier angekündigt, dass Berlin definitiv sein letztes Turnier in Deutschland sein wird. Wie kann man ihn, vor allem auch als Persönlichkeit, ersetzen?
CD: „Als Persönlichkeit kann man ihn nicht ersetzen. Er hat dem Team in den letzten Jahren einen Biss und eine Aggressivität gegeben, die perfekt in das sonst doch sehr liebe Mannschaftsgefüge passte. Georg hat noch mehr als alle anderen die Liebe zu (Volleyball-)Deutschland verkörpert und sich für das Nationalmannschaftstrikot aufgeopfert. Dies wurde beim Turnier in Berlin auch allen Außenstehenden nochmal sehr deutlich. Rein volleyballerisch ist er als unumstrittener Weltklassespieler auch nicht einfach ersetzbar, allerdings traue ich hier unseren nachrückenden Diagonalspielern auch eine Menge zu. Auch ein weniger auf den Diagonalspieler ausgelegtes Angriffsspiel kann ebenfalls eine Möglichkeit für die Zukunft sein, über die wir uns Gedanken machen werden.“
Ist es auch vorstellbar, dass man Georg in den nächsten Jahren anderweitig im Verband, bzw. dem Nationalteam integriert?
CD: „Georg hat sich, wie viele Spieler in den letzten Jahren, durch seinen Einsatz für Volleyball-Deutschland und den DVV unseren Respekt und unsere Dankbarkeit erarbeitet. Wir wollen hier zum einen, wie mit der Verabschiedung von Jochen Schöps im Jahr 2018 begonnen, öfter DANKE sagen, aber uns auch um unsere Helden nach ihrer Karriere kümmern. Wenn Georg in ein paar Jahren seine Schuhe komplett an den Nagel hängt, werden wir sicher miteinander reden und vielleicht ein gemeinsames Projekt angehen. Wir wollen definitiv mehr ehemalige Topathleten einbinden.“
Ein wichtiges Thema sind auch die Trainerpersonalien, da beide Verträge im Sommer auslaufen. Wie wird es weitergehen?
CD:„Da die Situation bis Ende 2020 geklärt ist, werden wir sicher nichts überstürzen. In den nächsten zwei Wochen werden wir die beiden Turniere zusammen auswerten und danach den Blick in die Zukunft richten. So viel kann man bereits sagen: Ich bin mit beiden Trainern sehr zufrieden.“
Wie zufrieden sind Sie generell mit den Entwicklungen der Nationalmannschaften?
DC: „Gerade die Frauen haben sich sehr positiv entwickelt. Hier gab es nach 2016 einen größeren Umbruch. Ab 2017 und 2018 wurden solide Leistungen geboten, ohne große Ausschläge nach oben oder nach unten. Seit 2019 haben wir nochmal deutlich an Qualität hinzugewonnen, haben eine gute Volleyball Nations League, eine sehr gute interkontinentale Olympia-Qualifikation und eine herausragende Europameisterschaft gespielt. Dies gipfelte in der Leistung in Apeldoorn, bei der nur der letzte Schritt gefehlt hat.
Die Männer haben wechselhafte Jahre hinter sich. Der verpassten WM-Qualifikation folgte die Silbermedaille bei der EM 2017, wechselhafte Auftritte in der Volleyball Nations League und eine durchwachsene Europameisterschaft 2019. Um diese Schwankungen zu verringern, muss der von Andrea Giani verlangte Kurs beibehalten werden, der darin besteht, immer als Team komplett anzutreten. Ständige Personalwechsel bringen das Team nicht weiter.“
Seit diesem Jahr greift auch das neue Nachwuchskonzept, das der DVV gemeinsam mit der Volleyball Bundesliga und den Landesverbänden entwickelt hat. Inwieweit wird dies die Nationalteams in den nächsten Jahren positiv beeinflussen?
CD:„Das Nachwuchskonzept ist grundsätzlich darauf ausgelegt mehr Kinder zum Volleyball zu bringen. Erst im zweiten Schritt beschäftigt es sich mit optimierten Förderstrukturen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es positive Auswirkungen haben wird. Diese werden aber noch nicht im kommenden Olympiazyklus spürbar sein, da alle Veränderungen Zeit brauchen werden. Eine Ausnahme könnte die B-Nationalmannschaft sein, die bereits kurzfristig eine positive Wirkung auf unsere A-Nationalteams haben wird. Im Jahr 2021 wollen wir auch mit den Männern an der Universiade teilnehmen.“