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QIU: DASS ICH TIMO RAUSHAUE UND DANN SANG- UND KLANGLOS RAUSGEHE, IST NICHT DAS ZIEL

Europameisterschaften in München (13. bis 21. August) + + +  Personalgeschichte: Im Juni eroberte der 25-jährige Dang Qiu erstmals die Top Ten der Welt und schob sich dabei an Timo Boll vorbei. Bei der Heim-EM warf er ihn im Viertelfinale aus dem Turnier

Dang Qiu (c) DTTB

MÜNCHEN. Im Juni hatte der 25-jährige Dang Qiu erstmals die Top Ten der Weltrangliste erobert und sich dabei an Timo Boll vorbeigeschoben, hatte als Jüngster der großen Sechs in Deutschlands aktuellem Herren-Nationalteam den mit 41 Jahren Ältesten überholt. Im Viertelfinale der ersten Europameisterschaften, für die der gebürtige Nürtinger auch im Einzelwettbewerb nominiert worden war und in seinem entsprechend ersten EM-Halbfinale, besiegte er am Samstagvormittag dann den Mann, der zurecht als „Mr. European Championships“ gilt. Schließlich hat Timo Boll bei seinen bislang 18 Europameisterschaftsteilnahmen insgesamt 28 Medaillen im Einzel, Doppel und mit der Mannschaft gewinnen konnte, darunter 20 Mal Gold.

Dang Qiu, der Deutsche Einzel-Meister von Saarbrücken und Gewinner des WTT Contenders in Lima, hatte sich bei der Heim-EM in München von Runde zu Runde in eine bessere Form gespielt. Titelverteidiger Boll, vor dem Turnier wegen Rippenproblemen von einem Trainingsrückstand gehandicapt, stand schon im Auftaktmatch mit einem Bein im Aus. Doch der WM-Dritte von Houston gilt als Experte darin, in schlechter Form in ein Turnier zu starten und bis zum Ende sein Weltklasseniveau zu entfalten.

Zaghafte Zuschauer beim deutschen Duell

Boll startete gut in den ersten Durchgang. Er führte mit 7:4, als ein unbeeindruckt gebliebener Qiu den Turbo zündete. Bereits in Satz zwei lief Boll dann einem 0:4-Rückstand hinterher. Dang Qiu spielte äußerlich unbekümmert von der Legende, die nicht nur sein Nationalteamkollege, sondern auch sein Düsseldorfer TTBL-Mannschaftskollege ist. Qiu war an diesem Tag der dominantere, hatte dank seines hervorragenden passiven Spiels eine gute Kontrolle bei den Bällen Bolls, traf die Gegenspins, bearbeitete ihn mit variantenreichen Aufschlägen beliebiger Länge und ließ den Rekord-Europameister 20 Jahre nach dessen ersten beiden EM-Titeln im Einzel und Doppel 2002 in Zagreb laufen.

Nur zaghaft versuchten einige Zuschauer, die Comebacker-Qualitäten des 41-jährigen Sportphänomens während des Satzes zu aktivieren. Bei einem Duell zweier Deutscher in der am vorletzten Turniertag erstmals ausverkauften Rudi-Sedlmayer-Halle ist es für die Zuschauer schwer, das Rund zum Beben zu bringen. So kam Stimmung vor allem in den Satzpausen auf, das rhythmische Klatschen galt beiden.

In Satz vier war es endgültig eine Demonstration der Stärke des Jüngeren. Boll hatte nicht seinen besten Tag erwischt. „Ich war viel zu viel mit mir selbst beschäftigt, mit meiner Technik, mit meinen Bewegungen. Da konnte ich mich gar nicht mehr darauf konzentrieren, was Dang vorhat“, erzählte Boll nach dem Match. Und wenn er traf, war Qiu längst da, antwortete schneller und kraftvoller. Mit einem parallelen Vorhandschuss, ganz eng die Linie hinunter in Bolls Vorhand verwandelte Dang Qiu nach nicht einmal einer halben Stunde seinen zweiten Matchball zum 11:7, 11:8, 11:6 und 11:2.

Boll: „Auch wenn es sich immer so anhört: Ich höre noch nicht auf“

Dang hat durch die Bank in allen Bereichen gut gespielt. Er war sehr präzise, hat gerade auf meinen Aufschlag viel Druck ausgeübt“, lobte Timo Boll. „Er hat mich gar nicht erst ins Spiel kommen lassen. Von daher geht die hohe Niederlage in Ordnung.“

Qiu war auf den Punkt auch mental in Form. Es war sein erster Erfolg gegen Timo Boll überhaupt. Wie viel ihm dieser bedeutete, daran ließ er das Publikum über das Hallenmikrofon teilhaben: „Gegen Timo Boll zu spielen ist eine der schwersten Sachen im europäischen Tischtennis. Dass ich es jetzt endlich geschafft habe, ihn zu besiegen, ist ein Traum.“

Boll wiederum hatte nebenbei erleichternde Nachrichten für seine Fans weltweit. „Auch wenn es sich immer so anhört: Ich höre noch nicht auf. So ein Spiel ist zäh, wenn es so deutlich ausgeht, aber ich habe immer noch viel Spaß am Tischtennis. Ich freue mich schon auf die nächste Trainingseinheit gegen Dang.“

Qiu: jüngster Sohn einer Tischtennisfamilie

Im Schwäbischen geboren hat Dang Qiu die komplette Nachwuchsförderung des Deutschen Tischtennis-Bundes durchlaufen. Er entstammt einer Tischtennisfamilie. Sein anderthalb Jahre älterer Bruder Liang war in der Bundesliga aktiv, Mitglied der Schüler- und Jugend-Nationalmannschaft und spielt aktuell in der 3. Bundesliga für Neckarsulm. Sein Vater Qin Jianxin, ein ehemaliger chinesischer Nationalspieler und Studierenden-Weltmeister, spielte in der Bundesliga und arbeitete im Anschluss als Trainer. Heute hat er Engagements bei der japanischen Nationalmannschaft. Dangs und Liangs Mutter Chen Hong gehörte der chinesischen Nationalmannschaft an und spielte ebenfalls in der Bundesliga.

Qius Eltern waren beide Penholderspieler. Wegen der größeren

Variationsmöglichkeiten begannen jedoch beide Söhne im Shakehandgriff mit dem Tischtennisspielen. Liang Qiu macht das bis heute, Dang kam damit nicht zurecht. „Ein halbes Jahr lang habe ich so gespielt“, erzählt er, „aber ich hatte tierische Probleme mit der Rückhand.“ Sein Vater riet ihm, es im Penholder zu probieren. Das beidseitige Penholder-Spiel schaute sich Dang Qiu im Alter von zehn Jahren bei dem damals sehr populären chinesischen Ex-Weltmeister Wang Hao ab.

Boll über Qiu: „Dang lebt Tischtennis von morgens bis abends“

Stetig ging es für Qiu bergauf:

Einzel-Bronze U15 bei den Jugend-Europameisterschaften 2010, Deutscher U15-Meister 2011, EM-Zweiter der U21 2017. Nach dem Abitur 2015 konzentrierte er sich ganz aufs Tischtennis. „Dang lebt Tischtennis von morgens bis abends“, charakterisiert ihn Timo Boll. „Er guckt jedes Spiel, auch wenn er ein Turnier mal nicht spielt oder selbst trainiert. Er ist ein harter Arbeiter, hat im Laufe der Jahre ein gutes Gefühl dafür entwickelt, was er zu spielen hat. Er ist ein Tischtennis-Verrückter, ein Tischtennis-Wahnsinniger im positiven Sinne. Und ein feiner Kerl.“

Er trainiere mitunter so viel, dass sein Düsseldorfer Vereinstrainer Danny Heister ihm rate, zwischendurch auch mal abzuschalten, hat Qiu vor der EM der Süddeutschen Zeitung erzählt. „Ich habe viele Jahre hart trainiert, meine Philosophie ist die Kontinuität, und wenn es zwischendurch auch mal nicht so gut läuft, muss man trotzdem immer weitermachen und daran glauben.“ Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf beschreibt ihn als akribisch und gut strukturiert. Privat sei er ein Familienmensch, der intelligent, freundlich und zuvorkommend ist. „Als Sportler kennt er seine Ziele und weiß, welcher Weg zu ihnen führt.“ Der Weg ins Finale bei dieser EM führt am späten Nachmittag über den amtierenden Welt- und Europameister im Doppel, Mattias Falck aus Schweden.

Ovtcharovs Aus im Viertelfinale gegen Karlsson

In der anderen Hälfte des Tableaus schied Dimitrij Ovtcharov gegen Falcks Doppelpartner Kristian Karlsson in sechs Sätzen aus. Nach einer achtmonatigen Pause aufgrund einer hartnäckigen Knöchelverletzung und zwei Operationen ist der zweifache Einzel-Bronze-Medaillengewinner bei Olympischen Spielen noch auf dem Weg zu alter Form. Er haderte mit ausgelassenen Möglichkeiten in diesem Match. „In den entscheidenden Phasen habe ich Chancen liegen lassen, was für mich untypisch ist. Das wird von einem so starken Spieler wie Kristian Karlsson natürlich knallhart bestraft“, so Ovtcharov. „Das ist vielleicht einfach ein Part des Prozesses, dass man nach einer so langen Verletzung einfach am Training und an den Wettkämpfen dranbleiben muss, um wieder mehr Beständigkeit ins Spiel zu kriegen. Ich freue mich erst einmal, dass ich wieder gesund bin, wieder spielen kann, und ich bin mir sicher, dass ich mich von Wettkampf zu Wettkampf steigern werde.“

Coach Jörg Roßkopf erklärte: „Kristian hat konstant gut gespielt und hatte sehr viel Selbstvertrauen auch aus seinen Siegen in den Runden zuvor. Dima hatte zu viele Schwankungen im Spiel. Er hat drei, vier Bälle gut gespielt, dann wieder drei, vier Bälle zu einfach.“ Dass von fünf deutschen Herren in München nach dem Triumph der Warschau-EM im vergangenen Jahr nur einer in den Medaillenrängen zu finden ist, wusste der DOSB-Trainer des Jahres 2021 einzuordnen. „Mit Timo und Dima waren zwei Spieler unseres Olympia-Trios lange verletzt. Der Dritte, Patrick, ist kurz vor der EM das erste Mal Papa geworden. Alle haben einen großen Trainingsrückstand. Wir als Trainer wiederum pushen sie unter diesen Umständen nicht so, denn das große Ziel in allen Köpfen ist Olympia 2024 in Paris.“

Herren-Viertelfinale
Dang Qiu – Timo Boll 4:0 (7,8,6,2)
Mattias Falck SWE – Truls Möregardh SWE 4:2 (-11,-4,8,7,9,5)
Dimitrij Ovtcharov – Kristian Karlsson SWE 2:4 (-9,4,-9,8,-5,-4)
Darko Jorgic SLO – Tiago Apolonia POR 4:3 (-8,10,5,-8,-6,8,10)

Halbfinale
16.50 Uhr: Dang Qiu – Mattias Falck SWE
17.45 Uhr: Kristian Karlsson SWR – Darko Jorgic SLO

Damen-Halbfinale
15.00 Uhr: Sabine Winter – Sofia Polcanova AUT
15.55 Uhr: Nina Mittelham – Shan Xiaona

Die Spiele am Sonntag
Damen-Finale um 14.30 Uhr
Herren-Finale um 16.00 Uhr

Das Aufgebot des DTTB in München

Herren
Dimitrij Ovtcharov (TTC Neu-Ulm, Weltrangliste vom 9. August: Platz 9, Patrick Franziska (1. FC Saarbrücken TT, WR: 12), Dang Qiu (Borussia Düsseldorf, WR 13), Timo Boll (Borussia Düsseldorf, WR: 14), Benedikt Duda (TTC Schwalbe Bergneustadt, WR: 36)

Damen
Ying Han (KTS Enea Siarka Tarnobrzeg, Polen / WR: 8), Nina Mittelham (ttc berlin eastside, WR: 12), Xiaona Shan (ttc berlin eastside, WR: 17),  Sabine Winter (TSV Schwabhausen, WR: 48), Yuan Wan (TTC Weinheim, WR: 89), Annett Kaufmann (SV Böblingen, WR: 122), Franziska Schreiner (TSV Langstadt, WR: 209)

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