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SABINE, ES IST NUR TISCHTENNIS

Europameisterschaften in München (13. bis 21. August)   + + + Sabine, es ist nur Tischtennis!“ + + + In einem wahren Thriller und nach Abwehr von drei Matchbällen zieht EM-Botschafterin Sabine Winter ins EM-Achtelfinale von München ein. + + + Und hat dabei sogar den Timo-Boll-Krimi am Vorabend getoppt. + + +

In einem wahren Thriller zieht die Botschafterin Sabine Winter ins Achtelfinale von München ein (c) DTTW

München. „Sabine, es ist nur Tischtennis!“, rief ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder Ben ihr von der Tribüne zu. „Ich weiß“, antwortete Sabine Winter. Und machte gleich die nächsten beiden Punkte. Dies war keine Pausenkonversation, kein Geplänkel unter Geschwistern zur Ablenkung am Rande eines wichtigen Wettkampfs. Dieser kurze Wortwechsel fand in Einzelrunde zwei der European Championships statt, und bei der Tischtennis-Botschafterin der European Championships lief gegen die 27-jährige Nummer 180 der Weltrangliste aus Rumänien, Irina Ciobanu, zu diesem Zeitpunkt so gar nichts zusammen.

Mit 0:2 in Sätzen und 1:3 lag Sabine Winter in Rückstand, spielerisch ohne Hoffnung auf Besserung, als der brüderliche Weckruf kam. Krachende Vorhand, schnelle Beine, längst stark verbesserte Rückhand – die Nummer 48 der Welt und amtierende Deutsche Einzel-Meisterin konnte sich auf ihre üblichen Stärken nicht verlassen. So viel hatte sich Sabine Winter vorgenommen für diese Heim-EM im doppelten Sinne. Noch nie hatte die Bayerin eine EM so nah an ihrem Zuhause erleben dürfen. Sind die Straßen frei, braucht ihre Familie vom heimischen Seefeld mit dem Auto 25 Minuten bis zur Halle. Dazu noch eine Multi-EM zusammen mit acht anderen Sportarten – ein Mini-Olympia vor der Haustür. „Ich nehme jede EM ernst und spiele sie gerne, aber dass sie in meiner Heimat so nah an München stattfindet, hat mir diese EM noch mal wichtiger gemacht. Und im Rahmen eines Multisport-Events ist sie ein noch größeres Highlight“, erzählt Winter.

Das wusste auch ihre Familie auf den Rängen, Bruder Ben, Vater Mark und Mutter Gabi. „Diese EM war mir schon im Vorfeld so wichtig“, sagt Winter. Sie ist eines der markanten Gesichter bei der Bewerbung des Turniers, spielte fürs Social-media-Marketing auf dem Dach des Olympiaparks ebenso Tischtennis wie auf Kufen gegen eine Eishockey-Mannschaft. Im Tischtennis-Kreisen ist sie ein kleiner Star der sozialen Medien, der die Fans regelmäßig mit ungewöhnlichen Videos unterhält, ohne sich selbst allzu ernst dabei zu nehmen. Sie hat auf einem Baumwipfel gespielt, in der Mitte eines Sees auf einer selbstgebauten Surfbrett-Konstruktion, im Winter auf Skiern, hat beim Bergwandern den Leichtholz-Nachbau eines Tischtennistischs auf dem Rücken auf den Gipfel geschleppt.

Ihre Familie inspiriert sie – vor allem Vater Mark, der augenzwinkernd behauptet, die besten Ideen kämen von ihm –, eine Familie, die Tischtennis lebt. Mark Winter hatte seine Tochter einst mit dem Tischtennis vertraut gemacht, als wegen eines gebrochenen Beins kein anderer Sport möglich war. Bruder Ben spielte mit elf Jahren eine zeitlang im Bayern-Kader, inzwischen ohne Training noch in der Bezirksliga und hält seine Schwester auf Wunsch auch über die Weihnachtsfeiertage am Tisch in Form. Vieles dreht sich beim sportverrückten deutsch-englischen Quartett um die Karriere der 29-jährigen fünffachen Europameisterin. Und so ahnten die drei Winters oben auf der Zuschauertribüne, wie Sabine sich fühlen musste. „Ben dachte, ich drehe da unten gerade durch. Deshalb hat er reingerufen“, sagt die für Schwabhausen in der Bundesliga auf Punktejagd gehende Wahl-Düsseldorferin, die am Deutschen Tischtennis-Zentrum trainiert, aber jeden der seltenen Aufenthalte in der Heimat genießt.

Ein Fehlaufschlag Ciobanus brachte die Wende

Doch zurück zum Spiel gegen Irina Ciobanu: Zwischendurch blitzten die spielerischen Tugenden der Team-WM-Medaillengewinnerin von 2010 auf. Winter gewann den dritten Satz, ließ ihre Kontrahentin im vierten Durchgang nach ausgeglichenem Verlauf bis zur Satzmitte jedoch wieder ziehen. Im Fünften hatte sie leichtes Spiel, im Sechsten folgte der Einbruch: 1:7, 5:9. „Bei dem hohen Rückstand war mein Glaube an den Sieg nicht mehr so groß“, erzählt sie, doch dann war es eine Kleinigkeit, die einer erfahrenen Spielerin wie ihr die Hoffnung zurückgibt. Irina Ciobanu unterlief bei 5:9 ein Fehlaufschlag. Kein ganz normaler aus einer Ungeschicklichkeit heraus oder einer feuchten Stelle auf dem Belag. Sabine Winter schlussfolgerte einen anderen Hintergrund: „Sie war nervös. Es gibt Spielerinnen im Tischtennis, die das Zittern bekommen, wenn sie den Sieg gegen eine deutlich höher platzierte Gegnerin vor Augen haben. Und so sah es für mich in dem Moment aus: Jetzt macht sie sich in die Hosen, habe ich gedacht – ob das stimmte oder nicht, war nicht wichtig. Ich habe einfach an ihre Angst geglaubt.“

Die mentale Schwachstelle der Gegnerin traf auf den unbedingten Siegeswillen Sabine Winters bei ihrem Heimspiel. Denn obwohl es spielerisch nicht lief: „Ich wollte die Halle nicht verlassen, ohne sicher zu sein, dass ich bis zum Schluss mein Bestes gegeben habe.“

Plötzlich traf die Deutsche, wehrte bei 8:10 die ersten beiden Matchbälle ab, zum Punktausgleich sogar durch eine mit der Vorhand umlaufene Rückhand, um den tödlichen Topspin zu versenken. Von der eigenen Wucht aus der Bahn geworfen, landete Sabine Winter nach dem Schlag auf dem Hallenboden. Nicht schlimm, denn die Gegnerin war chancenlos bei diesem Punkt.

Nervenflattern im siebten Satz

Der Knoten war geplatzt, am Tisch stand wieder die Sabine Winter, die in der Rudi-Sedlmayer-Halle alle sehen wollen. Mitte des siebten Satz glaubte sie es dann selbst. „Bei 5:0 habe ich zum ersten Mal gedacht: Jetzt fängst du endlich an, Tischtennis zu spielen!“ Und schon war es wieder vorbei. Es folgten zwei eher leichte Fehler, die tapfer immer weiter kämpfende Rumänin traf danach zwei gute Bälle, „und schon war sie wieder dran, und bei mir ging das Nervenflattern los“.

Beim 5:8 sei der Gedanke an den sechsten Satz in ihr aufgekommen. „Vorhin war es ein 5:9 – das habe ich auch geschafft“, beschreibt sie. Sie wurde für ihren Mut belohnt, wehrte bei 9:10 den dritten Matchball gegen sich ab und verwandelte ihren ersten nach fast einstündiger Spieldauer zum 12:10. Fast ungläubig senkte sie ihren Schläger zum Kopf, Bundestrainerin Tamara Boros schloss sie herzlich in die Arme. Auf den Rängen war ihre Familie im Freudentaumel. Ihr Bruder war jubelnd auf das Geländer vor den Sitzreihen gesprungen und riss beide Arme in die Höhe („Wie so ein Fußball-Hooligan“, wird die kleine Schwester später frotzeln.). Auch ihre Eltern hatte es längst von den Sitzen gerissen. Sabine Winter genoss die Freude der Zuschauer, die so mit ihr gelitten hatten und bei denen sie sich anschließend über das Hallenmikrofon persönlich für die Unterstützung bedanken konnte.

Spielerisch war das heute absolut gar nichts. Aber wie ich das noch gemeistert habe, darüber bin ich einfach happy“, kommentiert sie etwas später gegenüber den Journalisten in der Mixed Zone, wo Sportler und Trainer auf die Medienvertreter treffen. „Ich habe eine zweite Chance bei diesem Turnier bekommen und werde das einfach genießen.“ Und sie scherzt: „Was Timo kann, kann ich schon lange“. Der Rekord-Europameister hatte am Vorabend mit 1:3 in Sätzen und 3:7 in seinem Auftakteinzel bei den European Championships gegen Polens Samuel Kulczycki in Rückstand gelegen und die Partie noch gedreht.

Deutsches Achtelfinale: Winter vs. Han

Bei ihrer zweiten Chance wird Sabine Winter am Freitag im Achtelfinale ihrer Nationalteamkollegin Ying Han gegenüber stehen. Diese hatte Christina Källberg aus Schweden, die Schwester von Borussia Düsseldorfs TTBL-Crack Anton Källberg, mit 4:0 besiegt. Die bei der EM an Position eins gesetzte Olympia-Zweite von Rio mit der Mannschaft ist zwar die höher eingestufte Akteurin, Winter jedoch ist eine Expertin gegen Defensivsysteme. Die letzten wichtigen Vergleiche hatten beide mit Siegen für Winter geendet. Das Finale der Deutschen Meisterschaften im Juni in Saarbrücken hatte sie ebenso gewonnen wie das Achtelfinale der EM in Warschau ein Jahr zuvor.

So ist ganz sicher eine Deutsche im Viertelfinale“, sieht es die Weltranglisten-Achte und Deutschlands Abwehrchefin mit den überraschenden Angriffschlägen, Ying Han, pragmatisch für ihr Team und ergänzt: „Gegen Sabine habe ich keinen Druck. Da habe ich nichts zu verlieren. Gegen andere Gegnerinnen erwartet man, dass ich gewinne.“ Sabine Winter wiederum sieht sich nicht als Favoritin. „Es wird ein 50-50-Spiel gegen Ying. Ich bin jetzt gelassener, denn eigentlich war ich schon zweimal draußen. Stand jetzt mache ich mir vermutlich weniger Druck. Ob das morgen wirklich noch so ist, werden wir sehen.“ Für die Gelassenheit wird am Freitag zur Not wieder ihre Familie auf der Tribüne sorgen. Für sie hat Sabine Winter auch im Spiel immer ein offenes Ohr.

Xiaona Shan: Am Vortag von der Atmosphäre abgelenkt, jetzt im Turnier angekommen

Die dritte Deutsche in der Einzelrunde zwei, Xiaona Shan, fühlte sich am Morgen gegen die Polin Katarzyna Wegrzyn endlich im Turnier angekommen. „Ich habe heute besser gespielt als gestern, war weniger nervös und vor allem besser an die Atmosphäre gewöhnt“, sagte die Penholderakteurin und Vorjahresfinalistin im Einzel. „Wir haben wegen Corona so lange ohne Zuschauer gespielt, dass ich gestern total abgelenkt war. Ich habe jedes Geräusch wahrgenommen.“ Mit der 21-jährigen ehemaligen Finalistin der U21-Europameisterschaften war es der erste direkte Vergleich. „Für mich ist es wie heute immer ein Vorteil, wenn eine Spielerin vorher noch nie gegen mich gespielt hat“, erklärt Shan. „Sie ist dann oft von meinem untypischen Spielsystem mit den Aufschlägen und den Noppen überfordert.“ In der nächsten Runde ist Shans Hürde allerdings wesentlich höher: Es ist Elizabeta Samara, Rumäniens 33-jährige Europameisterin von 2015.

Am Nachmittag wird eine weitere DTTB-Akteurin den Sprung ins Achtelfinale schaffen. Die bei der EM an zwei gesetzte Nina Mittelham trifft ab 16.35 Uhr auf EM-Nachrückerin Yuan Wan.

Damen-Einzel, 2. Runde (32)
Ying Han – Christina Källberg SWE 4:0 (9,6,4,4)
Sabine Winter – Irina Ciobanu ROU 4:3 (-7,-10,7,-7,6,10,10)
Xiaona Shan – Katarzyna Wegrzyn POL 4:0 (9,5,3,7)
16.35 Uhr: Nina Mittelham – Yuan Wan, Tisch 1

Das deutsche Programm am Freitag

Herren-Einzel, 2. Runde (32), 10, 10.50, 11.40, 12.30, 15.55 oder 16.45 Uhr
Patrick Franziska – Jakub Dyjas POL
Dimitrij Ovtcharov – Csaba András HUN
Timo Boll – Lubomir Jancarik CZE
Dang Qiu – Ioannis Sgouropoulos GRE
Benedikt Duda – Daniel Habesohn AUT

Achtelfinale um 15.55 und 16.45 Uhr

Damen-Einzel, Achtelfinale um 14.15 und 15.05 Uhr
Ying Han – Sabine Winter
Xiaona Shan – Elizabeta Samara ROU
Nina Mittelham oder Yuan Wan – Andreea Dragoman ROU oder Linda Bergström SWE

Viertelfinale um 18.20 und 19.10 Uhr

Das Aufgebot des DTTB in München

Herren
Dimitrij Ovtcharov (TTC Neu-Ulm, Weltrangliste vom 9. August: Platz 9, Patrick Franziska (1. FC Saarbrücken TT, WR: 12), Dang Qiu (Borussia Düsseldorf, WR 13), Timo Boll (Borussia Düsseldorf, WR: 14), Benedikt Duda (TTC Schwalbe Bergneustadt, WR: 36)

Damen
Ying Han (KTS Enea Siarka Tarnobrzeg, Polen / WR: 8), Nina Mittelham (ttc berlin eastside, WR: 12), Xiaona Shan (ttc berlin eastside, WR: 17),  Sabine Winter (TSV Schwabhausen, WR: 48), Yuan Wan (TTC Weinheim, WR: 89), Annett Kaufmann (SV Böblingen, WR: 122), Franziska Schreiner (TSV Langstadt, WR: 209)

Mit diesen Duos geht Deutschland in die Doppel-Konkurrenzen*
Herren-Doppel: Duda/Qiu
Damen-Doppel: Mittelham/Winter, Schreiner/Kaufmann
Mixed: Qiu/Mittelham, Duda/Winter
*Pro Nation dürfen nur maximal zwei Kombinationen an den Start gehen

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