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ARZT UND EINPEITSCHER: DR. TONI KASS

In Tokio ist Mannschaftsarzt Dr. Antonius Kass Teil der Fünfer-Betreuer-WG. Doch nicht nur die medizinischen Qualitäten des Orthopäden, Sportmediziners und ehemaligen 80-fachen Volleyball-Nationalspielers sind gefragt. Die als Stimmungsmacher sind im sonst fast leeren Tokyo Metropolitan Gymnasium ebenso gefragt. Physio Peter Heckert hat nicht nur die heilenden Hände, sondern ist auch der gute Geist der Mannschaft. Mit seiner Fachkompetenz, seinem offenen Ohr und seinen Entertainer-Qualitäten trägt er an der Seite von Teamarzt Dr. Toni Kass im so genannten „Club Med“ zur positiven Stimmung in Team Deutschland bei. Und für seinen ironischen Humor ist in Überschriften leider nie genug Platz. DTTB

TOKIO. Wer das Spiel um Bronze zwischen Deutschlands Herren und Südkorea bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 gesehen hat, erinnert sich an dieses Drama: Im Doppel an der Seite von Bastian Steger blockierte bei Timo Boll plötzlich ein Halswirbel. Boll spielte „ein bisschen wie Robocop“ (Zitat Boll). In der zehnminütigen Behandlungspause bekam Dr. Toni Kass ihn wieder hin, und gegen Abwehrass Joo Se Yuk machte der Rekord-Europameister dann sogar eines seiner großen Spiele bei Olympia.

Rio ist längst Geschichte. Dr. Antonius „Toni“ Kass ist immer noch „der Doc“ von Team Deutschland. Seit 2011 ist der 58-jährige gebürtige Paderborner Sportmediziner, Orthopäde und ehemalige Volleyball-Nationalspieler der Mannschaftsarzt des DTTB, nachdem er zuvor ab 2007 bereits das Internat in Düsseldorf und die Bundesliga-Mannschaft der Borussia sportmedizinisch versorgt hatte. In der NRW-Landeshauptstadt arbeitet er dreifache Familienvater als niedergelassener Arzt mit eigener Praxis. „Toni ist ein ganz wichtiger Bestandteil unseres Betreuer-Teams. Mit seinem Wissen und seinem Rat ist er nicht wegzudenken und gleichermaßen bei Spielerinnen, Spielern und Betreuern geschätzt und beliebt“, fasst Sportdirektor Richard Prause es zusammen.

Einstieg beim Volleyball-Nationalteam

Sein Einstieg als Arzt einer Nationalmannschaft hatte der Zwei-Meter-Mann jedoch in einer ganz anderen Sportart, einer für ihn viel naheliegenderen. Nachdem der 80-fache Volleyball-Nationalspieler und Mittelblocker 1991 seinen letzten Länderspieleinsatz gehabt hatte, konzentrierte er sich zunächst auf seine Karriere als Mediziner abseits des Feldes. 1993 kam dann ein Anruf des Volleyball-Verbands. Ob er nicht kurzfristig bei einer Länderspielreise der DVV-Damen als Arzt einspringen könne. Er konnte. Kass kam dabei nicht nur sein spielerisches Volleyball-Wissen zugute, sondern auch jene schmerzhaften Erfahrungen, die er persönlich in seiner Sportlerkarriere gemacht hatte. „Kass ist bei Athleten so beliebt, weil er beinahe jede Sportverletzung selbst einmal gehabt hat und daher sofort weiß, was dem Patienten fehlt“, schrieb die Rheinische Post 2018 über ihn.

Dieses Wissen macht sich seit vielen Jahren auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) zunutze. Im Jahr 2000 in Sydney war Kass zum ersten Mal als Arzt bei Olympischen Spielen dabei. In Tokio sind es seine inzwischen fünften Sommerspiele. In der medizinischen Zentrale des DOSB im Olympischen Dorf ist er nach dem kurzfristigen Ausfall zweier anderer Ärzte noch intensiver auch für andere Sportarten zuständig, war neben Tischtennis schon beim Judo und Kanuslalom, hat Fechter und Ringer behandelt. „Ich sehe dadurch etwas mehr als bei den Spielen zuvor und bekomme auch Einblicke in Sportarten, die ich sonst nie gesehen habe“, freut er sich. Eines wurmt ihn jedoch besonders: „Ein Jammer ist es für mich, diese wundervollen Sportstätten zu sehen, die mit so viel Liebe zum Detail gemacht sind. Wenn die Stadien voll wären, wäre das sicher eine ganz tolle Atmosphäre. Dass sie das in der Pandemie nun nicht sind, tut mir in der Seele weh.“

Beschäftigt von früh bis spät

Apropos „wehtun“: Bei Deutschlands Herren und Damen habe jeder so seine kleinen Wehwehchen, verrät er. So ist die zweiköpfige medizinische Abteilung aus Toni Kass und Physiotherapeut Peter Heckert, DTTB-intern „Club Med“ genannt, von früh bis spät gut beschäftigt. Nach dessen kräfte- und nervenzehrenden Matches in Viertelfinale, Halbfinale und Spiel um Bronze kümmerten sich Kass und Heckert besonders um Dimitrij Ovtcharov. „Ich versuche, ihn mit Akupunktur und verschiedenen anderen Dingen wieder etwas aufzumöbeln. Das gelingt bislang ganz gut“, so Kass am Tag nach dem epischen Bronze-Match gegen Lin Yun-Ju, der die Aktiven nach „solch hochgradig belastenden Spielen immer gründlich untersucht, um mit Hand und Auge die richtigen Entscheidungen zu treffen“ (Zitat Richard Prause).

Beim Damen-Spiel werden die Fernseh- und Livestream-Zuschauer Toni Kass wieder in der Nähe von Bundestrainerin Jie Schöpp sitzen sehen. Auf dem einen Platz für medizinische Betreuer in der Nähe von Trainerin bzw. Trainer an der Box wechselt sich Doc Kass mit Physio Heckert ab. Kass hat sogar schon eine freundliche Verwarnung von Olympia-Oberschiedsrichter Werner Thury aus Österreich kassiert, „er möge sich ein bisschen leiser freuen“ (Prause). Die Australier hatten sich im Einzel von Han Ying beschwert, sein Aufspringen und lautstarkes Anfeuern sei zusätzliches Coaching. „‘Cheering‘ und Klatschen seien ausdrücklich erlaubt, hieß es extra, aber ich solle dabei nicht so nah an die Box gehen. Wenn man zwei Meter groß ist, ist das natürlich noch mal etwas anderes, wenn man aufspringt“, erklärt Kass.

Fünfer-Männer-WG mit Fernseher

Kass genießt die Zeit mit den Sportlerinnen und Sportlern, und in Tokio unterscheidet sich noch etwas von seinen sonst üblichen Olympia-Erfahrungen, die Unterbringung nämlich. Anders als 2012 und 2016 wohnt er nicht im „Ärztehaus“ des DOSB, sondern ist Teil der Männer-Wohngemeinschaft mit Peter Heckert, Richard Prause, Jörg Roßkopf und Lars Hielscher. Und weil bei den Betreuern – in der größten der drei deutschen Tischtennis-Wohnungen auf Zeit – der einzige Fernseher steht, sind entsprechend häufig die Spieler und Spielerinnen in der Fünfer-WG zu Besuch. „Wir haben jede Menge Spaß. Auch wenn nachts das Schnarchgeräusch aus jeder Ecke dringt.“

Weniger Freude als bei vorangegangenen Sommerspielen hat er bei den Mahlzeiten. „Die Qualität des Essens ist hervorragend und so gut wie nie“, stellt er klar. Nein, ihn störten die Plexiglasscheiben zwischen den Plätzen in der „Main Dining Hall“, denn sie verhinderten Gespräche in größerer Runde. Man höre die anderen kaum. „Das ist für mich eine große Einbuße an Lebensqualität, an Erlebnisqualität, weil das Essen einfach nicht mehr so gesellig ist.“ Die Corona-Umstände erkennt er selbstverständlich an: „Das hat alles seinen Sinn, denn gerade beim Essen ist die Ansteckungsgefahr sehr groß. Ich gehe neuerdings sogar fast lieber alleine essen, denn das soziale Moment beim Essen ist hier einfach weg.“

Kass‘ Anfeuerungsrufe fallen sogar im Fernsehen auf

Wo man Toni Kass deutlich hört, ist in der Halle. „Mit meinen Anfeuerungsrufen bin ich hier fast allein auf weiter Flur“, räumt er ein. Seine lautstarke Aufmunterung für die Deutschen war den TV-Kommentatoren bereits mehrfach Erklärungen an die Zuschauer wert. „Beim Volleyball wird sehr viel emotionaler angefeuert. Das mache ich hier dementsprechend gerne und versuche, auch die anderen auf der Tribüne mitzureißen“, so Kass.

Am wichtigsten ist ihm dabei das Feedback der Aktiven: „Über die Rückmeldung von Dima habe ich mich sehr gefreut. Er hat gesagt, dass er total stark findet, dass ich Stimmung mache. Er hört das im Spiel wohl.“ Ein wenig heiser ist Toni Kass nach drei Tagen Gefühls- und Tischtennis-Marathon von Dimitrij Ovtcharov. Aber wenn es am Dienstag bei den Team-Wettbewerbe wieder wichtig ist, wird seine Stimme in Schuss sein.

Und so wird der Mann, der am Klavier und in der Coverband „Weitsicht“ am Keyboard auch mal die leisen Töne anschlagen kann, auch in der zweiten Olympia-Woche noch laut herauszuhören sein. Schließlich muss er Stimmung machen für die vielen fehlenden Zuschauer in der Tischtennis-Arena. Fürs Team ist er in allen Belangen wichtig: mit seinen medizinischen Kenntnissen und als Einpeitscher.

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