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ACHTER TITEL FÜR TIMO BOLL UND ERSTE GOLDMEDAILLE FÜR PETRISSA SOLJA

Europameisterschaften in Warschau: 22. bis 27. Juni 2021

Timo Boll Er ist einfach überall: Timo Boll (Foto: MS)

WARSCHAU. Viermal Gold, dreimal Silber! Die Europameisterschaften in Warschau sorgten mit den Goldmedaillen für Timo Boll, Petrissa Solja, für das Doppel Solja/Shan Xiaona und für das Mixed Nina Mittelham/Dang Qiu für das beste Ergebnis deutscher Tischtennisspieler und Tischtennisspielerinnen in der 63-jährigen Geschichte der Europameisterschaften. Und es nicht nur eine Rekordmarke für den Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB): In der Wertung der Invidual-Wettbewerbe schiebt sich Deutschland damit vor Ungarn, das im bisherigen Rekordjahr 1958 „nur“ dreimal Gold sowie dreimal Silber und dreimal Bronze gewonnen hatte. Ungarns Herren gewannen zwar zusätzlich noch Team-Gold, die Mannschafts- und Individual-Wettbewerbe werden jedoch seit 2012 getrennt ausgetragen.

Sportdirektor Prause: „Die gezielte Arbeit zahlt sich aus“

Sportdirektor Richard Prause sieht wenige Wochen vor den Olympischen Spielen in Tokio den Kurs des DTTB auf dem richtigen Weg: „Ich freue mich über das starke Ergebnis in Warschau, nicht nur aufgrund der Medaillengewinne. Wenn man etwas tiefer schaut, hatten wir aber auch fünf Herren und vier Damen im Einzel unter den besten 16, das ist bemerkenswert. Unsere gezielte Arbeit über einen langen Zeitraum hinweg zahlt sich aus, das ist seit langem im Training sichtbar und bei dieser EM an den Ergebnissen abzulesen. Wir haben in Warschau eine gute Portion Selbstvertrauen auf dem Weg nach Tokio getankt und haben wie erhofft eine wichtige Rückmeldung erhalten, an welchen Feinabstimmungen wir in den nächsten Wochen noch arbeiten müssen.“

Wieder mal ein Comeback: Achter Titel für Phänomen Timo Boll

Er ist wieder da! Aber das kann man beim Phänomen Timo Boll ja öfter schreiben. Der 40-jährige Düsseldorfer sicherte sich im deutschen Duell mit Dimitrij Ovtcharov beim Finale in der Torwar Arena von Warschau seinen 20. Titel insgesamt und achten im Einzel bei Europameisterschaften. Typisch Boll steigerte er sich auch diesmal von Runde zu Runde des Turniers, absolvierte im Viertelfinale am Samstag gegen Bundesliga-Teamkollege Anton Källberg das seiner Meinung nach „beste Spiel seit ein, zwei Jahren“ und hielt am Sonntagvormittag in der Vorschlussrunde ebenso den schwedischen WM-Finalisten von 2019, Mattias Falck, in Schach.

Auch den topgesetzten Dimitrij Ovtcharov, EM-Titelträger von 2015 und 2013, brachte Rekord-Europameister Boll mit kluger Taktik und beeindruckender Spritzigkeit nahezu zur Verzweiflung. Spätestens Mitte des vierten Satzes war da eindeutig Ratlosigkeit im Blick des World-Cup-Siegers von 2017 und aktuellen Weltranglistenneunten, Ovtcharov, der selbst nicht seinen besten Tag erwischt hatte. Beim Stand von 4:5 nahm er eine Auszeit, nachdem er eine kleine Führung zu Satzbeginn verspielt hatte, doch die Wende blieb aus. Timo Boll gewann das Endspiel der beiden Freunde mit 9:11, 11:6, 11:9, 11:8 und 11:8 und  verbesserte neben seiner eigenen auch die Medaillenbilanz des DTTB auf insgesamt 131 Mal Edelmetall bei Europameisterschaften seit der EM-Premiere im Jahr 1958, darunter 48 Mal Gold.

Statt Karriereende aufs Treppchen: „Es war sehr emotional“

„Es war sehr emotional. Vor einem Jahr hatte ich eine schwere Verletzung und wusste nicht, ob meine Karriere überhaupt weitergehen kann“, erklärte Timo Boll noch kurz vor der Siegerehrung. „Ich habe lange pausiert, es ausheilen lassen und Richtung Olympia hart trainiert. Dass das jetzt mit einem Europameistertitel belohnt wird, macht die Quälerei ein bisschen wett. Ich bin natürlich super happy.“

Und mit Blick auf die Sommerspiele in Tokio in einerm Monat fügte er hinzu: „Ich fahre bestimmt mit einem guten Gefühl dorthin. Es ist wichtig zu wissen, dass man als 40-Jähriger noch so ein Turnier durchstehen kann, körperlich, aber auch mental. Ich habe es hier über mehrere Spiele und Tage geschafft, in diesen tiefen Tunnel einzudringen, der nötig ist auf diesem Level. Außerdem habe ich ein Feedback bekommen, woran ich in den letzten Tagen bis zur Abreise noch arbeiten muss. Olympia kann kommen.“

Dem Himmel so nah: Peti Solja

„Ich bin Europameisterin, ich kann es noch gar nicht glauben!“ Vor Glück hätte Petrissa Solja die ganze Welt umarmen können. Doch die war erstmal gar nicht da. Nachdem ihre Nationalteamkollegin und Doppelpartnerin Shan Xiaona sie nach ihrem Sieg im Einzel bei den Europameisterschaften von Warschau kurz in den Arm genommen hatte, war dort niemand an der Box, um ihr direkt zum Sieg zu gratulieren. Weil es sich um ein deutsches Finale handelte, bei dem das Bundestrainer-Team traditionell nicht coacht, war der Platz auf der Bank leer. Und unter Pandemie-Bedingungen darf ohnehin niemand von außen auf den Court stürmen. So war Dimitrij Ovtcharov, der sich für das Herren-Finale gegen Timo Boll bereit machte, der erste, der Peti Solja nach ihrem 4:1-Sieg und zu ihrem ersten EM-Titel im Einzel beglückwünschte. Was genau die beiden miteinander sprachen, ist nicht überliefert.

So lange war sie dieser Medaille schon hinterhergelaufen, von extern betrachtet zumindest. Obwohl erst 27 Jahre alt ist Petrissa Solja schon seit vielen Jahren die heiße Kandidatin auf das Einzel-Gold bei Europameisterschaften. Im März 2017 war sie als Nummer 13 der Weltrangliste, ihre bislang höchste Einstufung im Ranking, mal wieder beste Europäerin, gewann 2015 Bronze beim traditionsreichen World Cup. 2019 holte sie erstmals den Titel beim europäischen Ranglistenturnier Europe Top 16 und konnte ihren Erfolg im Jahr darauf wiederholen. „Meinen Traum, einen europäischen Einzeltitel zu gewinnen, konnte ich ja schon 2019 und 2020 verwirklichen“, hatte sie vor der EM klargestellt. „Für mich fühlen sich die beiden Siege beim Europe Top 16 wie Erfolge bei Europameisterschaften an.“ Jetzt weiß die gebürtige Pfälzerin in Diensten des hessischen Erstligisten TSV Langstadt, dass es da doch einen Unterschied gibt: „Der EM-Sieg ist doch etwas anderes als das Europe Top 16, auch wenn man da genauso gegen die Besten Europas spielt.“

Auch wenn Petrissa Solja in diesem Finale Satz drei gegen Shan Xiaona verlor: Es war ein eher einseitiges Match der beiden, die sich aus dem Nationalteam und als Doppelpartnerinnen so gut kennen, das Solja mit 11:7, 11:3, 11:9, 4:11 und 11:2 für sich entschied. „Ich habe erst ein- oder zweimal gegen ‚Nana‘ gewonnen. Ich wusste, dass ich etwas ändern muss, und das ist mir sehr gut gelungen. Ich war gleich von Anfang des Spiels fokussiert und habe mich gut bewegt. Ich konnte aggressiv spielen und war klar im Kopf und wusste, welche Taktik ich spielen will“, analysierte Solja. Ein Knackpunkt sei auch gewesen, so die Pfälzerin, dass sie am Ende wahrscheinlich noch einen Tick frischer war. Shan Xiaona stand nach 2013 zum zweiten Mal im Einzel-Finale, musste sich nach einem erfolgreichen Turnier nicht grämen: „Peti hat heute sehr gut gespielt, und ich konnte meine Konzentration nach den langen Tagen hier in Warschau im Finale nicht hochhalten. Insgesamt bin ich mit meiner Leistung bei der EM sehr zufrieden, aber natürlich wäre ich auch gerne Europameisterin geworden.“

Immerhin konnten beide kurz zuvor im Doppel gemeinsam einen EM-Titel feiern. Petrissa Solja nimmt eine große Portion Selbstvertrauen mit und wird Warschau in bester Erinnerung behalten: „Mit den zwei Goldmedaillen würde ich mich schon trauen zu sagen, dass diese EM für mich perfekt war.“

Shan/Solja gewinnen das deutsche Duell auf Augenhöhe

Früher hieß es mal „Cappuccino-Finale“, wenn es deutsche Duelle bei internationalen Großveranstaltungen gab und die Trainerinnen und Trainer dem Geschehen auf dem Centercourt traditionell von der Tribüne aus zusahen und nicht coachten. Dann stellte Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf vor Jahren klar, dass er gar keinen Kaffee trinke. Und sein Damen-Pendant Jie Schöpp sagte auf die Frage, wie sie die Endspiele im Damen-Doppel und -Einzel von der Tribüne aus verfolge, schlicht: „Ich entspanne mich dabei.“ Dazu hatten sie und ihre Bundestrainerkollegin Tamara Boros nach den hektischen Tagen und langen Turnierabenden in Warschau allen Grund.

Im Doppel-Finale sahen sie eine Partie auf Augenhöhe zwischen Shan Xiaona/Petrissa Solja, den EM-Finalistinnen von 2016, und Nina Mittelham/Sabine Winter, die noch nie miteinander, aber jeweils an der Seite von Kristin Lang sowie Winter darüber hinaus zusammen mit Solja 2013 diesen Titel bereits gewonnen hatten. Nach dem Gewinn von Satz eins sicherten sich die zunächst etwas aktiver und aggressiver agierenden Mittelham/Winter nach abgewehrtem Satzball in Durchgang drei auch diesen Satz. Im vierten Satz konnten Shan/Solja ihre kleine Führung zu Beginn zunächst nicht ausbauen, mit der Konzentration auf die Rückhandseite ihrer Kontrahentinnen, setzten sie sich zum 8:5- und 9:6-Zwischenstand dann jedoch ab und glichen mit 11:8 nach Sätzen aus. Im Entscheidungsdurchgang erhöhten Mittelham/Winter wieder den Druck. Als ihre 6:3-Führung in der etwas schlechteren Konstellation dahingeschmolzen war, nahmen sie ihre Auszeit. Ausgeglichen ging es weiter, bis am Ende mehrere ihrer Topspins misslangen. Beim Stand von 10:8 verwandelten Shan Xiaona und Petrissa Solja direkt ihren ersten Matchball. Es ist der erste gemeinsame EM-Titel für das Olympia-Teamdoppel von Rio und Tokio.

Nina Mittelham: „Das war leider nicht unser bestes Spiel bei dieser EM“

Während sich die Siegerinnen noch ein wenige Ruhe vor dem bald darauf folgenden Einzel-Finale suchten, standen die enttäuschen Silbermedaillengewinnerinnen den versammelten Medienvertretern in der Mixed-Zone tapfer Rede und Antwort: „Wir haben leider im Finale nicht unseres bestes Spiel bei dieser EM gemacht, es sind uns relativ viele einfache Fehler unterlaufen. Wir haben zwar 6:3 geführt, standen aber am Ende etwas schlechter von der Konstellation. Es ist schon sehr ärgerlich, wenn man Chancen hat und diese dann nicht nutzt“, kommentierte Nina Mittelham die knappe Niederlage. Sabine Winter ergänzte: „Gerade überwiegt natürlich die Enttäuschung. In ein paar Tagen freuen wir uns aber auch irgendwann über Silber. Glückwunsch an Nana und Peti!“ Als ungewohnt empfand Nina Mittelham die stille Atmosphäre während des Endspiels: „Wegen Corona dürfen ja eh keine Zuschauer in die Halle, aber da hat uns das Team von der Tribüne aus immer lautstark angefeuert. In einem deutschen Finale ist das nicht natürlich nicht der Fall und dadurch war so gar keine Stimmung, das war irgendwie komisch.“

Dritte deutsche Finale im Damen-Doppel der EM-Geschichte

Es war das dritte deutsche Endspiel im Damen-Doppel in der 63-jährigen EM-Geschichte und erst das vierte mit der Beteiligung von Spielerinnen derselben Nation überhaupt. 2013 in Österreich und 2016 in Ungarn standen sich Kristin Lang/Sabine Winter und Zhenqi Barthel/Shan Xiaona bzw. drei Jahre später Kristin Lang/Nina Mittelham und Shan Xiaona/Petrissa Solja gegenüber. 1972 kamen drei von vier Finalteilnehmerinnen aus Ungarn: die späteren Titelträgerinnen Henriette Lotaller/Judit Magos standen Beatrix Kishazi an der Seite der Engländerin Jill Hammersley gegenüber.

Glückwünsche vom DTTB-Präsidenten

Angesichts dieser Titelflut zusammen mit dem Mixed-Gold durch Dang Qiu/Nina Mittelham von Freitag kommentierte der Präsident des Deutschen Tischtennis-Bundes: „Vier Goldmedaillen und drei deutsche Endspiele bei Individual-Meisterschaften – das könnte einer dieser Rekorde für die Ewigkeit sein. Es war die Art von gelungener Generalprobe, die wir uns nach der langen wettkampffreien Zeit und vor den Olympischen Spielen erhofft hatten. Gratulation ans ganze Team, an die Aktiven, ihren Betreuerstab und die Trainingsgruppe zu Hause!“ Und Michael Geiger fügte augenzwinkernd hinzu: „Leider konnte ich aufgrund der Corona-Vorgaben der ETTU in Warschau nicht live vor Ort dabei sein. Das scheint jedoch auch sein Gutes gehabt zu haben. Offensichtlich konnte unser Team ohne Druck aufspielen. Deshalb werden wir das bei Olympia genauso handhaben.“ 

Heike Ahlert, Vizepräsident Leistungssport des DTTB, war nicht nur vom Rekordergebnis der deutschen Mannschaft angetan: „Dieses historisch gute Abschneiden ist überragend. Die Spielerinnen und Spieler haben in Warschau sportlich Herausragendes geleistet. Die deutsche Mannschaft hat sich in jeder Hinsicht gemeinsam ein starkes Team präsentiert, auch bei der Unterstützung der Sportler von der Tribüne aus. Vielleicht ist das Abschneiden von Warschau ja ein gutes Omen für die Olympischen Spiele in Tokio!“

Der Ergebnisse des Finaltages

Damen-Einzel, Finale
Petrissa Solja – Shan Xiaona 4:1 (7,3,9,-4,2)

Halbfinale
Shan Xiaona – Margaryta Pesotska UKR 4:0 (6,9,7,4)
Petrissa Solja – Elizabeta Samara ROU 4:2 (4,11,-9,-7,8,6)


Herren-Einzel, Finale
Timo Boll – Dimitrij Ovtcharov 4:1 (-9,6,9,8,8)
Herren-Einzel, Halbfinale

Timo Boll – Mattias Falck SWE 4:2 (11,10,6,-9,-9,7)
Dimitrij Ovtcharov – Marcos Freitas POR 4:2 (9,-8,-9,12,8,9)


Damen-Doppel, Finale

Shan Xiaona/Petrissa Solja – Nina Mittelham/Sabine Winter 3:2 (-7,7,-10,8,8)

Herren-Doppel, Finale
Lev Katsman/Maksim Grebnev RUS – Jakub Dyjas/Cédric Nuytinck POL/BEL 3:1 (10,8,-8,7)

Das EM-Aufgebot des DTTB

Herren
Dimitrij Ovtcharov (Weltrangliste: 9, Fakel Gazprom Orenburg, Russland), Timo Boll (WR: 11, Borussia Düsseldorf), Patrick Franziska (WR: 16, 1. FC Saarbrücken TT), Ruwen Filus (WR: 35, TTC RhönSprudel Fulda-Maberzell), Benedikt Duda (WR: 41, TTC Schwalbe Bergneustadt), Dang Qiu (WR: 52: aktuelle Saison: ASV Grünwettersbach, neue Saison: Borussia Düsseldorf).

Damen
Petrissa Solja (WR: 20, TSV Langstadt), Han Ying (WR: 22, KTS Enea Siarka Tarnobrzeg, Polen), Nina Mittelham (WR: 39, ttc berlin eastside), Shan Xiaona (WR: 41, ttc berlin eastside), Sabine Winter (TSV Schwabhausen, WR: 126)

Die Deutschen starten in folgenden Konkurrenzen
Herren-Einzel: Ovtcharov, Boll, Franziska, Filus, Duda
Damen-Einzel: Solja, Han, Mittelham, Shan, Winter
Herren-Doppel: Boll/Franziska, Duda/Qiu
Damen-Doppel: Solja/Shan, Mittelham/Winter
Mixed: Franziska/Solja, Qiu/Mittelham

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