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EHRENAMT AUF LEBENSZEIT . . .

. . . aber nur einmal Olympia: Schiedsrichterin Anja Gersdorf Wäre sie nicht eine ausgesprochene Katzenliebhaberin, würde man Anja Gersdorf im Medien-Jargon wohl „einen bunten Hund“ nennen. Die 49-jährige Wahl-Düsseldorferin ist eine von nur sechs Unparteiischen aus Europa, die für die Sommerspiele in Japan nominiert worden sind, sie ist privat ein wahres Multitalent und multiengagiert. Über ihre wohl einzigen Olympischen Spiele sagt sie: "Einerseits freue ich mich sehr, andererseits sind die Umstände komplizierter als alles, was ich je erlebt habe."

TOKIO. Anja Gersdorf ist eine der Olympia-Teilnehmerinnen in Deutschlands Aufgebot, um die es medial stiller ist als um die Spielerinnen, Spieler oder das Trainer-Team. Die 49-jährige Wahl-Düsseldorferin ist eine von nur sechs Unparteiischen aus Europa, die für die Sommerspiele in Japan nominiert worden sind, sie ist privat ein wahres Multitalent und multiengagiert.

Wäre sie nicht eine ausgesprochene Katzenliebhaberin, würde man sie im Medien-Jargon wohl „einen bunten Hund“ nennen. Geboren in Herdecke hat Gersdorf neben Bochum einige Jahre ihrer Kindheit in Spanien und Südkorea gelebt. Die Diplom-Übersetzerin für Englisch und Spanisch hat zusammen mit ihrem Ehemann Eike, der ebenfalls Internationaler Schiedsrichter ist, drei Kinder adoptiert, die zwischen sieben und 13 Jahre alt sind und die sie während der Pandemie durch Homeschooling und allerlei sonstige Probleme gebracht hat. Außerdem setzt sie sich mit einem neu gegründeten Verein aktiv gegen die Verschwendung von Lebensmitteln ein.

Komplizierter als alles, was ich je erlebt habe“

Seit 2010 ist Anja Gersdorf Beauftragte für Aus- und Weiterbildung im Ressort Schiedsrichter des DTTB. Und, man müsste fast schon „natürlich“ schreiben, ist die Bezirksklassenakteurin in ihrem Verein, der DJK Rheinland 05, die Damenwartin.

Für die Halterin des „International Umpire Blue Badge“, der höchsten Eignungsstufe für Schiedsrichter am Tisch, ist es die erste Teilnahme an Olympischen Spielen. Und es wird die einzige bleiben, auch wenn sie die Schiedsrichterei zurecht ein „Ehrenamt auf Lebenszeit“ nennt. Warum auch für Schiedsrichter die Bedingungen in Tokio für ihren großen Traum von Olympia alles andere als traumhaft sind, erzählt Anja Gersdorf im Interview.

Frage: Du hast in einem Interview vor sechs Jahren schon gesagt, als von deiner Nominierung für Tokio noch gar keine Rede war, eine Olympia-Teilnahme als Schiedsrichterin sei dein Traum. Wie fühlt es sich an, wenn dieser Traum nun tatsächlich begonnen hat?
Anja Gersdorf: Einerseits freue ich mich sehr, andererseits sind die Umstände komplizierter als alles, was ich je erlebt habe. So ist Olympia leider nicht, wie man es sich normalerweise erträumt: das Zusammenkommen der großen Sportfamilie. Ich sehe nur Hotel, Halle und Shuttle. 48 Stunden nach meinem letzten Einsatz muss ich das Land verlassen. Kein Sightseeing, keine Eindrücke von Tokio als Stadt – nicht mal öffentliche Verkehrsmittel darf ich benutzen. Ich war noch nie in Japan und hätte mir Land und Leute gerne angeschaut.

Wie schlimm war es im vergangenen Jahr für dich, als die Spiele verschoben wurden?
Gersdorf: Es gab zum Glück zu keiner Zeit Signale, dass die Schiedsrichter, die von Anfang an nominiert waren, plötzlich nicht mehr hin dürfen. Es ist übrigens unrealistisch, dass ich für Olympia noch einmal nominiert werde. Dorthin fährst du als Schiedsrichterin oder Schiedsrichter aus Deutschland nur einmal, weil es hier sehr viele gute, hoch qualifizierte Unparteiische gibt. In anderen Ländern ist das auch schon mal anders. Das ist bei uns ähnlich wie bei den Spielerinnen und Spielern. In anderen Ländern wärst du die Nummer eins, in Deutschland bist du eine oder einer von vielen guten.

Wie sind die Bedingungen für euch als Schiedsrichter, was Quarantäne, Unterbringung und Bewegungsfreiheit in Japan betrifft?
Gersdorf: Ich bin am 21. Juli in Tokio angekommen und musste dann erst mal für die Quarantäne im Hotel bleiben. Dass ich schon durchgeimpft bin, bringt mir keinen Vorteil. Schon vor der Anreise müssen wir zwei negative PCR-Tests nachweisen. Direkt bei der Einreise werden wir noch einmal getestet. Weil wir wie die Sportler eine Gesundheitstracking-App nutzen müssen, dürfen wir das Handy auch nachts höchstens stummschalten. Es muss immer eingeschaltet sein. Wir müssen jeden Morgen einen PCR-Speicheltest machen, der auf Corona getestet wird. Die Probe geben wir unter Aufsicht ab, damit sichergestellt ist, dass es wirklich meine Spucke ist. Das ist wie bei der Doping-Kontrolle.

Du und deine Schiedsrichterkollegen in Tokio, ihr kennt euch von den vielen internationalen Einsätzen. Normalerweise geht es immer familiär zu. Wie wird das diesmal sein?
Gersdorf: Auch das wird leider ganz anders. Die Kolleginnen und Kollegen müssen mindestens 1,5 Meter Abstand voneinander halten, damit nicht alle in Quarantäne müssen, sollte einer positiv getestet werden. Die Maske dürfen wir nur zum Essen und Schlafen abnehmen. Es wird also insgesamt etwas weniger gesellig sein als gewohnt.

Du bist zwar durchgeimpft. Trotzdem: Wie paranoid wird man im Vorfeld – unter anderem mit drei schulpflichtigen Kindern zu Hause -, wenn man weiß, dass bei einem positiven Test alles vorbei sein kann?
Gersdorf: Das gibt einem natürlich schon zu denken, zumal die Impfung vor einer Infektion mit der Delta-Variante nur bedingt schützt. Und natürlich ist man ständig in Sorge um die ungeimpften Kinder und davor, dass sie das Virus von irgendwoher einschleppen. Daher habe ich im Vorfeld der Olympischen Spiele schon extrem aufgepasst, dass sich keiner von uns infiziert, wozu auch das wöchentliche freiwillige Testen der gesamten Familie gehört.

Der internationale Spielbetrieb hat anderthalb Jahre fast geruht. Du hast während der Pandemie immerhin in den 1. Bundesligen schiedsen können und Anfang Juli bei der inoffiziellen Tokio Challenge von Deutschlands Herren. Wie viel Matchpraxis brauchen Schiedsrichter eigentlich?
Gersdorf:
Für Schiedsrichter ist jedes Match wichtig, da nach meinem Empfinden Erfahrung neben einwandfreier Regelkenntnis das A und O ist. Jedes Match bringt neue und andere Situationen hervor, auf die es zu reagieren gilt, und aus denen man lernt. Natürlich gibt es auch Spiele, die aus Schiedsrichtersicht beinahe ereignislos ablaufen und daher nicht besonders aufregend sind. Die kann man aber nutzen, um an anderen Dingen zu arbeiten, etwa der Optimierung von Handzeichen und Abläufen oder der Kommunikation mit der Kollegin oder dem Kollegen. Die Tokio Challenge, die international besetzte TTBL, vor allem aber die European Champions League, die Ende des letzten Jahres in Turnierform gespielt wurde, waren eine sehr gute Vorbereitung auf Olympia. Damit hatte ich im Gegensatz zu vielen Kollegen Glück.

Wie wird man als Olympia-Schiedsrichter ausgewählt?
Gersdorf:
Für Tokio 2020 wurde das Nominierungssystem der ITTF geändert. Während bis dahin die Nominierung durch die ITTF erfolgte, hatten die Nationalverbände jetzt erstmals die Möglichkeit, ihre Schiedsrichter aktiv zu nominieren. Die ITTF hat dann unter den Nominierten ausgewählt.

Wie bist du informiert worden, dass du für Tokio ausgewählt wurdest?
Gersdorf:
Die Auswahl wurde auf der Homepage der ITTF veröffentlicht.

Apropos „ausgewählt“: Auch die Schiedsrichter müssen sich in Tokio für die Endrunden durch gute Leistungen in den ersten Runden empfehlen und werden deshalb während des Wettbewerbs evaluiert. Worauf wird geguckt und wie viel Druck machst du dir dabei selbst?
Gersdorf:
Bei Olympia sind die Schiedsrichter anwesend, die sich die ITTF für dieses Turnier aufgrund ihrer Erfahrungen und Leistungen gut vorstellen konnte. Daher agieren dort keine Einzelschiedsrichter, sondern ein erfahrenes und motiviertes Schiedsrichterteam. Da wird natürlich vorausgesetzt, dass man am Tisch souverän agiert und das Geschehen jederzeit im Griff hat. Darüber hinaus wird über das Turnier hinweg beobachtet, ob sämtliche Anweisungen des Referee-Teams umgesetzt werden, ob man sich flexibel den Anforderungen vor allem der Medien anpasst, sich den Spielern gegenüber professionell verhält und möglichst fehlerlos agiert. Das ist schon fordernd, aber selber mache ich mir da keinen Druck. Das klappt schon. (Lacht.)

Wenn man am Ziel seiner Träume ist – wie geht es danach weiter?
Gersdorf:
Das ist individuell ganz unterschiedlich. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die nach Olympia die Schiedsrichterei aufgegeben haben, weil sie für sie keine weiteren Höhepunkte bereithält. Andere machen einfach weiter. Und wieder andere machen weiter und lassen andere an ihren Erfahrungen teilhaben und leisten auf diese Art einen, wie mich finde, überaus wertvollen Beitrag dazu, Schiedsrichterkolleginnen und -kollegen zu inspirieren, zu motivieren und auch neue Schiedsrichter zu gewinnen. Ich würde gerne zur letztgenannten Gruppe gehören.

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