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MIT KAMPF UND ADRENALIN ZUR WM-MEDAILLE

WM in Houston Zehn Jahre nach seiner ersten WM-Medaille im Einzel sichert sich Timo Boll das zweite Edelmetall - unter Schmerzen.

HOUSTON ( TX). Zehn Jahre nach seiner ersten und bis zu diesem Samstag einzigen WM-Medaille im Einzel, Bronze in Rotterdam 2011, hat sich Timo Boll im Alter von 40 Jahren seine zweite Weltmeisterschaftsplakette gesichert und kann am Sonntag, vielleicht sogar am Montag im Endspiel die Farbe maßgeblich beeinflussen. Hoffentlich kann er das. Denn beim 4:2 im Viertelfinale rang er zwar auch Kontrahent Kanak Jha aus den USA nieder, doch vor allem seinen eigenen Körper. Der hatte dem Rekord-Europameister und ehemaligen Weltranglistenersten mal wieder zur Unzeit einen Streich gespielt. Seinen Rücken hat Boll mal besser, mal schlechter im Griff, diesmal jedoch ist es eine Bauchmuskelzerrung, die ihn seit Wochenbeginn plagt, die jedoch an Heftigkeit nun massiv zugenommen hat mit starken Schmerzen auf der linken Seite.

Selbst wer sein schmerzverzerrtes Gesicht zunächst der ungewöhnlich hohen Fehlerquote zugeschrieben hatte, die ihn im Schnelldurchgang den ersten Satz gegen Jah kostete, wer das ständige Fassen an den linke Seite für eine Marotte hielt, für den wurde das körperliche Problem spätestens beim Timeout des vierten Satzes offenkundig, als sich der Düsseldorfer beim Stand von 8:7 mit dem Eisbeutel massierte. Timo Boll war massiv angeschlagen, und mit zunehmender Spieldauer wurden die Schmerzen größer. Im zweiten Satz schöpften die Fans Hoffnung. Der begann nach Maß. Schon die ersten Vorhand-Killer-Topspins fanden ihren Weg ins Ziel. Die Körpersprache verbesserte sich, und Jha musste diese Wandlung über sich ergehen lassen. In Durchgang drei schickte sich ein ähnlicher Verlauf an, doch nach 7:3 sah sich der letzte Deutsche im Wettbewerb plötzlich einem 8:9-Rückstand gegenüber, konnte den Satzverlust jedoch in der Verlängerung gerade noch verhindern. Den Durchgang mit der Eisbeutel-Auszeit entschied er ebenfalls für sich. In Durchgang fünf spielte er sich aus einem 2:5 zunächst zurück. Den ersten Satzball Jhas bei 8:10 wehrte er ab, beim zweiten gab es dann sogar einen Schmerzensschrei bei einer engen, wuchtigen Vorhand, die ins Leere ging. Und die Fans wussten: Jeder Satz, jeder Punkt mehr würde massiv an die Substanz gehen.

Ich wusste nicht, ob ich vielleicht einfach hinschmeißen sollte“

Ich wusste nicht, ob ich vielleicht einfach hinschmeißen sollte“, gab Boll nach dem Match Einblick in seine Gefühlswelt, die man von außen so offensichtlich miterleben konnte. „Das Gefühl innerlich war nicht mehr schön, aber ich wollte zu Ende kämpfen und mir keinen Vorwurf machen, nicht alles gegeben zu haben. Das Schwierigste war, trotz des Dauerschmerzes noch klare Gedanken zu fassen. Das hat größtenteils gut geklappt. Ich habe mir dann einfache Punkte herausgespielt – so verrückt kann Tischtennis sein.“ Boll versuchte es ökonomisch: Aufschlag, Rückschlag, erster Ball – nach Möglichkeit mussten die kleinen, schnellen Punkte her, um den Abbruch zu vermeiden.

Er hat ja schon länger die Probleme in dieser Gegend, aber in einem WM-Viertelfinale wird gekämpft, und das hat er gemacht“, sagte Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf. „Er hat sich über das Aufschlag-Rückschlag reingespielt, das war auch das Ziel. Und wir wollten den unerfahreneren Kanak natürlich etwas nervös machen.“ Jha versuchte, Boll nach links und rechts zu scheuchen, doch die Spielqualität des gebürtigen Hessen ließ das nur bedingt zu, dazu die Unerfahrenheit des 21-jährigen Kaliforniers in Diensten des TTBL-Klubs Ochsenhausen, der der erste männliche US-Amerikaner ist, der seit 1959 ein WM-Viertelfinale erreicht hat. Zudem zeichnet es Timo Boll aus, dass er zu nahezu jedem Problem im Tischtennis eine Lösung findet. So auch diesmal. Mit 11:7 quälte er sich in die nächste Runde.

Roßkopf: „Das Ziel ist es auch, morgen weiterzugehen“

Irgendwann habe ich es so hochgereizt, dass die Schmerzen gar nicht mehr weg gingen – aber da hilft das Adrenalin und auch, dass man dem Sieg immer näher kommt“, beschrieb der zweifache World-Cup-Sieger. „Es ist ein komisches Gefühl: Daheim sitzen die Leute und müssen miterleben, wie man sich so quält und leiden mit. Es wird morgen mit Sicherheit nicht einfach, aber ich werde auch wieder meine Wege suchen und wieder finden.“ Dann gegen den 19-jährigen schwedischen Shooting-Star Truls Möregardh, der den nigerianischen Publikumsliebling Quadri Aruna mit 4:2 besiegen konnte.

Das Ziel war ganz klar, die Medaille zu holen“, so Roßkopf, der sich selbst als Spieler nie geschont hat. „Und das Ziel ist es auch, morgen weiterzugehen. Klar, er bewegt sich nicht perfekt, aber Timo ist ein Kämpfer, und er wird das Beste herausholen.“

2019 verhinderte eine fiebrige Erkältung die Medaille

Das hätte Timo Boll schon vor zwei Jahren gewollt. Bei der WM in Budapest hatte er sich in exzellenter Form gezeigt, war bei einer mehr als machbaren Auslosung ins Einzel-Achtelfinale gestürmt und wohl für alle kleinen und großen Fachleute der Kandidat fürs Endspiel gegen Chinas Ma Long. Doch gestoppt wurde er nicht von dem Mann, den die Tischtennis-Welt den Außerirdischen nennt, sondern in der Nacht vor dem Viertelfinale von einer fiebrigen Erkältung, die ihm neben der Einzel- auch die wahrscheinliche Doppel-Medaille kostete.

Was ihn in Houston gehemmt hat, konnte er mit Willen und Erfahrung unterdrücken. Welche Farbe das Edelmetall von Texas bei den ersten Weltmeisterschaften auf dem amerikanischen Kontinent überhaupt am Ende haben wird? Fast egal, denn der Ehrenpräsident des Deutschen Tischtennis-Bundes bringt es auf den Punkt: „Jetzt ist Timo endgültig eine Legende, ein Held! Der verwundete Stier, der den Torero besiegt hat“, kommentierte Hans Wilhelm Gäb, der das Drama am heimischen Livestream verfolgt hatte

Der scheidende DTTB-Präsident, der als Deutschlands Delegierter beim Annual General Meeting des Weltverbands ITTF vor Ort ist, erzählte seine persönliche kleine Geschichte zu den WMs mit Timo Boll in 2011 und 2021: „2011 war ich DTTB-Vizepräsident und bin privat für drei Tage nach Rotterdam gereist. Ich saß direkt an der Box, als sich Timo seine Medaille sicherte. Das war ein großartiges Erlebnis“, sagte Michael Geiger. „Heute ist ein Traum in Erfüllung gegangen, dass ich dabei sein durfte, als er das Ergebnis wiederholt hat. Und noch sind ja weitere Optionen offen. Die Medaille ist sicher, aber noch ist nicht klar, welche. Als Zhang Jike gegen Timo eine Runde später gewann, saß ich wieder vorne und sah, wie Zhang sein Trikot zerriss. Diesmal möchte ich dabei sein, wenn Timo sein Trikot zerreißt.“

58-jährige Ni Xia Lian hat Medaille sicher / Schwedens Paradedoppel schlägt Chinas Stars

Noch zwei aus europäischer Sicht besonders bemerkenswerte Ergebnisse bei der WM der Überraschungen: Die 58-jährige Ni Xia Lian steht bei ihrer 22. WM-Teilnahme im Doppel-Halbfinale an der Seite ihrer Luxemburger Landsfrau Sarah De Nutte. Bei ihrer WM-Premiere 1983 war „Nixi“ Weltmeisterin mit der Mannschaft und im gemischten Doppel zusammen mit Guo Yuehua für ihr chinesisches Geburtsland gewesen. Für die Penholder-Akteurin mit dem ökonomisch-unangenehmen Spielsystem ist es WM-Edelmetall Nummer fünf.

Außerdem: Schwedens Paradedoppel schockte die Turnierfavoriten aus China, Wang Chuqin/Fan Zhendong. Nach einem Fünf-Satz-Sieg stehen die Skandinavier in der Vorschlussrunde am Sonntag dem zweiten und letzten Duo aus dem Reich der Mitte gegenüber, den Bezwingern von Benedikt Duda und Dang Qiu, Lin Gaoyuan/Liang Jingkun.

Die Viertelfinale-Ergebnisse in der Übersicht

Herren-Einzel, Viertelfinale
Timo Boll – Kanak Jha USA 4:2 (-4,5,10,7,-9,7)
Truls Möregardh SWE – Quadri Aruna NGR 4:2 (11,8,-2,4,-12,7)
Fan Zhendong CHN – Lin Gaoyuan CHN, 2.20 Uhr
Liang Jingkun CHN – Hugo Calderano BRA, 4 Uhr

Halbfinale am Sonntag
Timo Boll – Truls Möregardh SWE

Herren-Doppel, Viertelfinale
Benedikt Duda/Dang Qiu – Lin Gaoyuan/Liang Jingkun CHN 2:3 (-8,-4,12,8,-9)
Kristian Karlsson/Mattias Falck SWE – Wang Chuqin/Fan Zhendong 3:2 (-8,8,-11,7,5)
Ho Kwan Kit/Wong Chun Ting HKG – Jang Woojin/Lim Jonghoon KOR 1:3 (4,-11,-4,-5)
Paul Drinkhall/Liam Pitchford ENG – Shunsuke Togami/Yukiya Uda JPN 1:3 (-10,10,-10,-5)

Halbfinale
Lin Gaoyuan/Liang Jingkun CHN – Kristian Karlsson/Mattias Falck SWE
Shunsuke Togami/Yukiya Uda JPN – Jang Woojin/Lim Jonghoon KOR

Mixed, Viertelfinale
Cheng I-Ching/Lin Yun-Ju TPE – Ho Kwan Kit/Lee Ho Ching HKG 3:1
Wang Chuqin/Sun Yingsha CHN – Alvaro Robles/Maria Xiao ESP 3:1
Tomokazu Harimoto/Hina Hayata JPN – Sathiyan Gnanasekaran/Manika Batra IND 3:1
Lin Gaoyuan/Lily Zhang USA – Emmanuel Lebesson/Yuan Jia Nan FRA 3:1

Halbfinale
Cheng I-Ching/Lin Yun-Ju TPE – Wang Chuqin/Sun Yingsha CHN
Tomokazu Harimoto/Hina Hayata JPN – Lin Gaoyuan/Lily Zhang USA

Damen-Doppel, Viertelfinale
Qian Tianyi/Chen Meng CHN – Choi Hyojoo/Lee Zion KOR 3:0
Hina Hayata/Mima Ito JPN – Andreea Dragoman/Elizabeta Samara ROU 3:0
Sarah De Nutte/Ni Xia Lian LUX – Archana Girish Kamath/Manika Batra IND 3:0
Wang Manyu/Sun Yingsha CHN – Miu Hirano/Kasumi Ishikawa JPN 3:2

Halbfinale
Qian Tianyi/Chen Meng CHN – Hina Hayata/Mima Ito JPN
Sarah De Nutte/Ni Xia Lian LUX – Wang Manyu/Sun Yingsha CHN

Damen-Einzel, Viertelfinale
Chen Meng CHN – Kasumi Ishikawa JPN 4:0 (9,6,8,6)
Chen Xingtong CHN – Wang Manyu CHN, 4.50 Uhr
Mima Ito JPN – Wang Yidi CHN, 1.30 Uhr
Suh Hyowon KOR – Sun Yingsha CHN, 3.10 Uhr

Trainerteam und Delegationsleitung

Richard Prause (Sportdirektor), Tamara Boros (Bundestrainerin Damen), Jörg Roßkopf (Bundestrainer Herren), Lars Hielscher (Cheftrainer Düsseldorf), Sascha Nimtz (Wissenschaftskoordinator, IAT Leipzig), Ralph Färber (Athletiktrainer, Olympiastützpunkt Hessen in Frankfurt am Main) Rainer Kruschel (Delegationsleiter und DTTB-Leistungssportreferent)

Medizinisches Team
Dr. Antonius Kass (Teamarzt), Dr. Christian Zepp (Sportpsychologischer Experte), Birgit Schmidt und Annette Zischka (Physiotherapeutinnen, OSP Hessen)

Schiedsrichter-Team der ITTF
Kerstin Duchatz (Düsseldorf), Nico Zorn (Wuppertal)

Offizielle DTTB-Vertreter in ITTF-Gremien
Michael Geiger (AGM-Delegierter), Matthias Vatheuer (AGM-Delegierter), Heike Ahlert (DTTB-Vizepräsidentin Leistungssport, ETTU-Vizepräsidentin, Mitglied im ITTF Board of Directors), Dr. Torsten Küneth (Equipment Committee), Manfred Schillings (ITTF Media Committee und DTTB-Presse & -Kommunikation)

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