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„ICH HATTE TOTALE ANGST VOR DEM WASSER“

Nach anfänglicher Überwindung erfolgreich: Multitalent Gina Böttcher setzte bereits mit 17 Jahren bei der EM ein Ausrufezeichen mit Silber und zweimal Bronze, 2021 will sie als frischgebackene Abiturientin bei den Paralympics angreifen. 2020 sollte ihr großes Jahr werden. Mit ihrer ersten Paralympics-Teilnahme hätte sich für Para Schwimmerin Gina Böttcher ein Traum erfüllt. Der Verschiebung kann sie trotz ihrer Enttäuschung viel Positives abgewinnen. So bleibt ihr mehr Zeit fürs Abitur – und ein weiteres Jahr Vorbereitung.

FRECHEN. In Zeiten der Corona-Pandemie ist für Gina Böttcher der Garten zu einem wichtigen Trainingsort geworden. Eine Liege, ein elastisches Seil, ein Baum – mehr braucht es nicht für eine schweißtreibende Kraft- und Ausdauereinheit. Die Para Schwimmerin aus Potsdam weiß sich zu helfen und hat kreative Ideen entwickelt, um sich und ihr „Trocken-Training“ den besonderen Umständen anzupassen. Mit kurzen Videos, die sie über die sozialen Netzwerke teilt, lässt sie die Leute an ihrem Sportlerleben teilhaben. „Das macht mir Spaß. Vielleicht kann ich damit auch andere motivieren“, sagt Böttcher, die eindrucksvoll vormacht, wie man mit einer Behinderung Höchstleistungen abruft.

Die Corona-Krise hat auch ihr Leben auf den Kopf gestellt. Bis zum Ausbruch der Pandemie war ihr Tagesablauf eng getaktet. 7.30 Uhr Schulbeginn, 9.30 Uhr Training, ab Mittag wieder Unterricht und anschließend die zweite Einheit. Inzwischen hat Böttcher jedoch nur noch zwei Stunden Schule pro Woche. Die 19-Jährige besucht die zwölfte Klasse der Friedrich Ludwig Jahn Sportschule in Potsdam. In Mathematik und Englisch hat sie ihre ersten beiden Abiturprüfungen bereits geschrieben. Und dabei wird es zunächst auch bleiben. Erst im nächsten Jahr folgen Sport und die mündliche Prüfung in Psychologie.

Der Plan: 2021 erst das Abitur vollenden – und dann nach Tokio

Um Schule und Leistungssport besser vereinbaren zu können, entschied sich Böttcher für das Abitur in 14 Jahren. „Das war eine gute Entscheidung“, betont die Potsdamerin. Sie ist Mitglied der sogenannten „Streckerklasse“ und ist überzeugt, „dass sich dieser Schritt im nächsten Jahr auszahlen wird“. Weil sich der Lehrstoff der zwölften Klasse auf zwei Jahre verteilt, hat sie in diesem und dem kommenden Schuljahr weniger Unterricht – und folglich mehr Zeit fürs Training. Diese „gewonnene Zeit“ soll sich positiv auf die Paralympics-Vorbereitung auswirken. Dass die Wettkämpfe in Tokio wegen der Corona-Pandemie nun nicht wie geplant stattfinden und damit die gesamte Jahresplanung über den Haufen geworfen wurde, empfindet Böttcher daher nicht als so schlimm.

Im Gegenteil: 2020 ist zwar auch für sie ein sonderbares Jahr, aber eben kein verlorenes. Die Enttäuschung über die Verschiebung ist inzwischen der Überzeugung gewichen, dass ihr ein weiteres Jahr des Reifeprozesses guttun und sie zu einer besseren Athletin werden kann. „Im ersten Moment war ich wirklich tottraurig über die Verschiebung, aber aus gesundheitlichen Aspekten war das auf jeden Fall die richtige Entscheidung“, sagt die Schwimmerin, die bei aller Anfangsenttäuschung nach vorne schaut. „Persönlich passen mir die Paralympics 2021 besser. Ich erhoffe mir durch das gewonnene Jahr nochmals eine Leistungssteigerung. Vielleicht wäre ich in diesem Sommer unter die Top 6 oder 7 geschwommen. Bis zum nächsten Jahr kann ich womöglich noch den einen oder anderen Platz rausholen.“

Anders als viele Sportler, die durch die Corona-bedingten Wettkampfabsagen noch um ihre Tokio-Teilnahme bangen müssen und unsicheren Monaten entgegenblicken, hat Böttcher die sportliche Qualifikation bereits geschafft. In Amsterdam knackte sie im vergangenen Dezember über 50 Meter Rücken und 50 Meter Freistil die erforderliche Norm. Sobald wieder Wettkämpfe stattfinden, möchte sie auch versuchen, sich über 150 Meter Lagen und 50 Meter Brust zu qualifizieren. Böttcher ist ein Multitalent. Sie ist auf allen Lagen schnell, doch am liebsten schwimmt sie die Freistilstrecken. Als 17-Jährige verbesserte sie bei ihren ersten Europameisterschaften über 50 Meter den 23 Jahre alten deutschen Rekord auf 45,72 Sekunden und jubelte über Silber. Zwei weitere Bronzemedaillen gewann sie über 150 Meter Lagen – dabei werden Rücken, Brust und Freistil geschwommen – und mit der Mixed-Staffel. „Das war ein riesengroßer Erfolg und ein enormer Schritt. Diese Leistung war für mich eine Bestätigung, dass sich das harte Training gelohnt hat“, erinnert sich Böttcher, die früher sogar zeitweise Fußball spielte. Und deren Entwicklung auch deshalb beeindruckt, weil sie fünf Jahre zuvor überhaupt erst Schwimmen lernte.

Die Paralympics sind für Gina Böttcher das „größte Sportereignis, mein großer Traum“

Böttcher hat eine longitudinale Fehlbildung an allen Gliedmaßen, das heißt, die Arme und Beine sind nicht voll ausgebildet. Weil sie damals einen Schulsportersatz brauchte, meldete ihre Mutter sie mit zwölf Jahren beim Schwimmen an. „Ich musste das erst lernen“, sagt sie. „Es lief zwar direkt gut und ich hatte großen Spaß daran.Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich weitermachen möchte, weil ich eigentlich totale Angst vor dem Wasser hatte.“

Es brauchte rund ein Dreivierteljahr, bis sich die heute 19-Jährige traute, ins tiefe Wasser zu springen. „Irgendwann habe ich mich dann überwunden.“ Ihre Trainerin Birgit Marquardt, die noch immer eine ihrer engen Bezugspersonen ist, half ihr dabei. Damit war der Grundstein für eine Karriere als Para Schwimmerin gelegt. Im März 2014 kam Böttcher zum SC Potsdam und machte dort rasante Fortschritte. Anfangs nahm sie an kleineren Wettkämpfen teil, ihre Premiere auf der großen Bühne der Para Schwimmer feierte sie dann 2015 bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften in Berlin. Ihr erstes Ausrufezeichen setzte sie schließlich bei den besagten europäischen Titelkämpfen 2018 in Dublin, als sie gleich drei Medaillen gewann.

Doch ihre Leistungskurve zeigte nicht immer nach oben. „Anfang 2019 hatte ich eine ziemliche Down-Phase“, wie Böttcher sie rückblickend nennt. Sie fiel in ein Loch, es fehlte die Motivation. „Meine Zeiten waren nicht gut und ich wusste zwischenzeitlich nicht, was ich will. Zum Glück hat sich alles zum Guten gewendet.“ Noch im selben Jahr und nur wenige Monate später schwamm Böttcher bei den Weltmeisterschaften und schrammte über 100 Meter Freistil als Vierte nur knapp am Podium vorbei. Die Freude war zurück – und mit ihr die Überzeugung um die eigene Qualität. Ihre gesamte Planung ist nun auf die Teilnahme an den Paralympics 2021 in Japan ausgerichtet. Für die 19-Jährige ist es das „größte Sportereignis, mein großer Traum“, wie sie sagt. „Ich habe lange darauf hingearbeitet. Und ich empfinde es als Ehre, dabei sein zu dürfen. Ganz abgesehen davon freue ich mich, auf dieser Reise eine neue Kultur kennenzulernen.“

Dafür ist Gina Böttcher auch bereit, große Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Dass anfangs Schwimmbecken geschlossen und kein Wassertraining möglich war, war eine entbehrungsreiche Zeit. Die Kontaktbeschränkungen für Leistungssportler sehen überdies vor, dass die Potsdamerin keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen und außerhalb der Familie keine Freunde treffen darf. „Das macht das Fortbewegen schwierig für mich“, schildert sie und ist froh, dass ihre Eltern sie stattdessen zum Training bringen.

Inzwischen darf ihre fünfköpfige Trainingsgruppe zumindest wieder ins Wasser. Statt zweimal täglich lässt Coach Maik Zeh seine Schützlinge aktuell vier Stunden am Stück trainieren – zwei Stunden Kraft und zwei Stunden im Wasser. An den freien Tagen ist dann jeder für sich zu Hause gefordert. Eine Herausforderung, der Böttcher mit Kreativität begegnet. Bis zu den Paralympics werden sicher noch einige Videos folgen. „Ich bekomme positive Rückmeldungen von Menschen, die super finden, was ich mache“, sagt sie und kündigt an, weiter hart für ihr großes Ziel zu arbeiten. Der Weg nach Tokio ist durch Corona zwar wieder länger geworden – aber ausbremsen lassen will sich Gina Böttcher davon nicht.

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