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EMOTIONALER LEADER MIT KLAREM ZIEL: TOKIO

Quelle: Sonja Scholten

DUISBURG. Eine Woche bis zum Sitzvolleyball-Qualifikationsturnier in Duisburg: Torben Schiewe will mit der Sitzvolleyball-Nationalmannschaft die letzte Chance nutzen und seine dritten Paralympics erleben

Langsam steigt die Anspannung bei Torben Schiewe. Es sind nur noch wenige Tage, bis am 1. Juni 2021 das Qualifikationsturnier der Sitzvolleyballer für die Paralympischen Spiele in Tokio startet. Schiewe ist Zuspieler der deutschen Herren-Nationalmannschaft und wird in Duisburg als solcher eine elementare Rolle im Team einnehmen. „Torben ist unser emotionaler Leader auf dem Spielfeld“, konstatiert Chefcoach Michael Merten. „Er pusht die Mannschaft richtig und bringt positive Emotionen gepaart mit einer gesunden Aggressivität ein – gerade in entscheidenden Momenten kann das extrem wichtig sein.“

Auch spielerisch bringt der 36-Jährige seine Mannschaft nach vorne. Schon seit seiner Kindheit lebt und liebt der gebürtige Celler Volleyball in allen Varianten. Im Alter von neun Jahren stattete Schiewe dem Volleyballverein seines Heimatdorfes Nienhagen gemeinsam mit seinem bis heute besten Freund einen Besuch ab – und hatte seinen Sport gefunden. Seine angeborene Gehbehinderung störte ihn dabei erst einmal wenig: „Ich war schon immer sehr wettkampforientiert, habe einfach mitgemacht und hatte auch ein gewisses Talent“, erzählt Schiewe, der dem Paralympicskader des Deutschen Behindertensportverbandes angehört.

Zunächst spielte er nur im Regelsport, bis er mit 15 Jahren auf einem Turnier auf einen Spieler traf, dessen Vater in der Standvolleyball-Nationalmannschaft im Para Sport aktiv war. Dieser erkannte das Talent sofort – und so wurde Schiewe prompt zu einem Lehrgang an die Sporthochschule Köln eingeladen. „Ich war dermaßen aufgeregt“, erinnert er sich. „Mit Athanasios Papageorgiou war der Trainer eine echte Legende und ich hatte riesigen Respekt vor allen. Ich kam in die Halle und habe erst einmal alle gesiezt.“ Schnell etablierte sich Schiewe als Leistungsträger der Standvolleyball-Nationalmannschaft. Doch er kam zu einem Zeitpunkt, an dem der Sport gerade an einem Wendepunkt stand: Nach den Spielen in Sydney im Jahr 2000 wurde Standvolleyball aus dem Programm der Paralympics genommen – paralympisch ist seitdem nur noch die Variante im Sitzen. Noch bis 2004 versuchte die internationale Standvolleyball-Szene alles, um diese Entscheidung rückgängig zu machen, jedoch ohne Erfolg.

Im Standvolleyball Weltmeister, im Sitzvolleyball Paralympics-Bronze

Nichtsdestotrotz feierte Schiewe im Standvolleyball große Erfolge. So holte er unter anderem schon 2003 mit der Mannschaft WM-Bronze, bevor er 2008 mit Deutschland Weltmeister wurde und 2007, 2009 und 2011 den World Cup in Kambodscha gewann. An Kambodscha erinnert sich Schiewe gut: „Kambodscha ist komplett volleyballverrückt, das war wirklich eine Wahnsinns-Erfahrung – wir haben vor 8000 Zuschauern gespielt und alle Spiele wurden live im Fernsehen übertragen. Das war schon etwas sehr Besonderes.“

Trotz all dieser Erfolge und prägenden Erlebnisse nagte der Wunsch an ihm, einmal bei den Paralympics dabei zu sein. „Olympia bzw. die Paralympischen Spielen sind das größte Ziel im Leben eines jeden Sportlers“, findet Schiewe. Daher begann er 2007, parallel zum Standvolleyball und dem Spielbetrieb im Regelsport, auch Sitzvolleyball zu spielen. Mit dem Ziel, die Qualifikation für die Paralympics 2008 in Peking zu schaffen, nahm der Nienhagener sogar einen Umzug nach Leverkusen in Kauf. Dort profitierte er von den optimalen Trainingsbedingungen am Paralympischen Trainingsstützpunkt und konnte neben dem Training die Fachoberschule in Köln besuchen. Doch trotz aller Anstrengungen verpassten die Sitzvolleyball-Herren die Qualifikation für Peking knapp – eine bittere Erinnerung für Schiewe, die vier Jahre später allerdings in den Hintergrund trat.

Denn 2012 landeten die deutschen Sitzvolleyballer in London ihren größten Coup seit dem dritten Platz in Barcelona 1992. Mit starken Auftritten spielten sie sich als Außenseiter bis ins kleine Finale vor, wo sie in einem nervenaufreibenden Match das Team aus Russland schließlich mit 16:14 im Tie-Break bezwangen und die Bronzemedaille gewannen. Ein prägendes Ereignis für Schiewe: „Vor allem nach der Enttäuschung 2008 war es einfach der Wahnsinn, in London eine paralympische Medaille zu gewinnen“, berichtet er. „Die Atmosphäre war das ganze Turnier hindurch sehr besonders, der Teamspirit innerhalb der Mannschaft, das fantastische Publikum in der Halle – die Medaille hat bei mir zu Hause auf jeden Fall einen Ehrenplatz bekommen.“

Auch im Regelsport erreichte der Zuspieler zu dieser Zeit seinen Karrierehöhepunkt: Er stieg mit dem TuS Brökel in die Regionalliga auf, wo er anschließend bis 2015 aufschlug. „Irgendwann habe ich dann gesundheitlich meine Grenzen aufgezeigt bekommen“, sagt Schiewe. „Ich hatte zunehmend Schmerzen im Fuß“. Ans Aufhören dachte er deswegen nicht, spielte international gemeinsam mit seinen Teamkollegen Martin Vogel und Heiko Wiesenthal auch Para Beachvolleyball – eine Sportart, die seit dem Aus des Standvolleyballs stetig an Bedeutung gewinnt – und konzentrierte sich in der Vorbereitung auf die Paralympics in Rio wieder auf den Sitzvolleyball. Dort lief es allerdings nicht ganz nach Plan für die deutschen Sitzvolleyballer, die am Zuckerhut nicht in die Nähe der Medaillenränge kamen und Rang sechs belegten.

„Ich habe unheimlich Bock, in Tokio zu spielen – man sollte jede Paralympics einfach genießen“

Nach Rio beschloss Schiewe, sportlich erst einmal etwas kürzer zu treten und die „ganz verrückten Aktionen“ in Zusammenhang mit dem Trainingsaufwand etwas zurückzufahren. Er heiratete, baute mit seiner Frau in seiner Heimat Nienhagen ein Haus und trat einen Job zunächst als Geschäftsführer, dann auch als Vorstandsvorsitzender des MTV Eintracht Celle an. Dennoch blieb der Volleyball immer präsent: „Zwei- bis dreimal die Woche habe ich schon mit Kumpels gezockt, oft auf der Beach-Anlage in Nienhagen“, gesteht er. „Ganz ohne Volleyball geht es einfach nicht.“ In der Zwischenzeit gab es bei den Sitzvolleyball-Herren einen Umbruch: Erfolgstrainer Rudi Sonnenbichler verabschiedete sich, auch einige Spieler beendeten ihre Karriere. Für Schiewe stand aber fest, dass er grundsätzlich weitermacht: „Volleyball ist meine große Leidenschaft und solange ich das Gefühl habe, der Mannschaft helfen zu können, macht es auf jeden Fall Spaß.“

Und so ist er nun auch unter Michael Merten wieder mit vollem Fokus dabei, wenn es um den letzten Platz für Tokio geht. „Das reizvolle am Mannschaftssport ist ja, dass jeder Spieler und insbesondere jeder Trainer seine eigenen Einflüsse mit rein gibt“, erklärt Schiewe. „Wir verstehen als Team immer mehr Michis (Anm. d. Red. Michael Merten) Philosophie und entwickeln uns immer weiter.“ Die Chancen seiner Mannschaft, das Qualifikationsturnier zu gewinnen, mag er nicht recht einschätzen: „Ich denke, es wird sehr ausgeglichen. Es gibt aufgrund der Pandemie kein aktuelles Videomaterial unserer Gegner, aber ich schätze gerade die Kasachen und auch die USA als sehr stark ein.“ Als Trumpf der Deutschen sieht er den leistungstechnisch sehr homogenen Kader, „es sitzen immer Top-Spieler auf der Bank, die alle jederzeit gefährlich sein können.“ Cheftrainer Merten sieht die Ausgangslage ähnlich und baut unter anderem auf die Fähigkeiten seines emotionalen Leaders: „Torben ist ein sehr wichtiger Spieler, weil er ein gutes Spielverständnis hat und in der Lage ist, diese spielerische Kompetenz auch umzusetzen“, sagt Merten. „Die Präzision bei seinen Ballhandlungen ist hoch und er findet der jeweiligen Spielsituation angemessene Lösungen. Er ist einfach ein richtig guter Zocker mit einem hervorragenden Gefühl für Risikobereitschaft!“

Dass die Spiele von Tokio pandemiebedingt anders werden, bremst Schiewes Motivation, sich zu qualifizieren, nicht im Geringsten: „Ich denke, alle Paralympics haben etwas ganz Eigenes und doch sind es letztlich immer noch Paralympische Spiele. Ich habe unheimlich Bock, dort zu spielen und ich denke, man sollte jede Paralympics einfach genießen.“ Zurzeit absolviert die deutsche Mannschaft die unmittelbare Wettkampfvorbereitung am Paralympischen Trainingsstützpunkt Leverkusen, bevor sie am 26. Mai zum Veranstaltungsort in die Sportschule Wedau nach Duisburg reist. Am kommenden Dienstag, 1. Juni 2021, startet das Team um 11 Uhr gegen Kanada in das Turnier und wird alles versuchen, um sich vier Tage später im Finale (5. Juni, 16 Uhr) das letzte Ticket nach Tokio zu schnappen.

Aufgrund der Pandemie sind keine Zuschauer zugelassen, es besteht jedoch die Möglichkeit, alle Spiele live auf Sportdeutschland.tv zu verfolgen.

Spielmodus:

Gruppenphase 1
Gruppe A
Deutschland (WRL 8)
Kasachstan (WRL 10)
Kanada (WRL 16)

Gruppe B
Ukraine (WRL 5)
USA (WRL 7)
Kroatien (WRL 17)

Gruppenphase 2
Gruppe A2
Erster Gruppe A
Zweiter Gruppe A
Dritter Gruppe B

Gruppe B2
Erster Gruppe B
Zweiter Gruppe B
Dritter Gruppe A

Halbfinale (4. Juni, 15 bzw. 18 Uhr)
Erster Gruppe A2 vs. Zweiter Gruppe B2
Erster Gruppe B2 vs. Zweiter Gruppe A2

Finale (5. Juni, 16 Uhr)
Gewinner Halbfinale 1 vs. Gewinner Halbfinale 2

Spiel um Platz 3 (5. Juni, 12.30 Uhr)
Verlierer Halbfinale 1 vs. Verlierer Halbfinale 2

Spiel um Platz 5 (5. Juni, 10 Uhr)
Dritter Gruppe A2 vs. Dritter Gruppe B2

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